Das Documenta-Schiff „Citizenship“ reist 60 Tage lang nach Kassel
Heiterer könnte ein Start nicht verlaufen nach all den Auseinandersetzungen, die es in den vergangenen Wochen um die Documenta fifteen gab mit Antisemitismus-Vorwürfen und zuletzt Vandalismus. Die untergehende Sonne schickt freundlich letzte Strahlen, ein ziemlich ungewöhnlich aussehendes Boot legt ab, das von strampelnden Radlern an Bord betrieben wird, ein Schiffshorn – bestehend aus ausrangierten Leitungen – schickt sein Tuten übers Wasser.
Zuvor hat ein junger Mann in hellblauem Bademantel und Latschen, die Schwimmbrille auf der Stirn, ein Gedicht („Vom Fluss Bad Berlin, da komm ich her“) vorgetragen und seine Fahne überreicht. Am Ufer ploppen die Korken, wird tränenreicher Abschied imitiert.
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Am Schiffbauer Damm nahe dem Berliner Ensemble ist an diesem Abend der Spirit spürbar, den das indonesische Künstlerkollektiv ruangrupa mit seiner Documenta eigentlich im Sinn hat: Gemeinschaftlichkeit, Nachhaltigkeit, alternative Formen des Zusammenlebens. Die Szene am Spreeufer hat etwas von Utopia. Man wird sehen, wie viel davon in die Wirklichkeit gerettet werden kann, wenn das Schiff nach sechzig Tagen Reise über Havel, Mittellandkanal, Weser und Fulda in Kassel angekommen ist – vier Wochen nach Eröffnung der Documenta fifteen, die dann weiter in der Luft zerrissen sein wird oder ihren Verteidigern als Ort der Glückseligkeit erscheint.
Das Boot entstand aus einem umgedrehten Holzdach
„Citizenship“, so der Name des von Volkswagen und Fraunhofer-Institut unterstützten Projekts, ist ein schwimmender Documenta-Vorposten, der sich nun wie ein freundlicher Botschafter von Berlin nach Kassel durch die Landschaft schiebt. Entstanden ist das Schiff aus dem umgedrehten Holzdach des Zentrums für Kunst und Urbanistik in Moabit. Seit zehn Jahren existiert dort das vom Kollektiv KUNSTrePUBLIK in einer ehemaligen Lagerhalle gegründete kreative Quartier, das nun erst einmal ohne Dach dasteht.
Matthias Einhoff sieht das entspannt. Er schippert mit Philip Horst und Harry Sachs, den beiden anderen Kollektivmitgliedern und Co-Direktoren des Zentrums, gen Westen und freut sich auf die Begegnungen am Uferrand. Die Bürgermeister der angeschriebenen Orte hätten überschwänglich reagiert, erzählt er. Abends wird nahe Campingplätzen geankert, tagsüber auf den Rädern gestrampelt, um die Schiffsschraube anzutreiben, wenn die Sonnenkollektoren nicht genügend Strom für den Elektromotor geliefert haben und die 39 Batterien wieder aufgeladen werden müssen. Auch das gehört zum Konzept: ganz ohne fossile Brennstoffe zu reisen.
Während der Reise werden aus Altkleidern neue Klamotten genäht
Ähnlich nachhaltig funktioniert die Versorgung. Die Lebensmittel werden von Foodsavern gebracht. In der Mitte des Schiffes stapeln sich in zwei Wannen diverse Salatköpfe, Gurken und Fladenbrote, die später weiterverarbeitet werden. Ebenso wird auf engstem Raum bei der Dusche improvisiert, die sich hinter einem schwarzen Vorhang verbirgt. Davor hat eine Künstlerin ihre Nähmaschine platziert, die mit Fußantrieb funktioniert. Hier sollen im Laufe der Reise aus Altkleidern neu geschneiderte Anziehsachen entstehen. Begeistert wird die gerade genähte Patchwork-Jacke eines Schülers vorgeführt, der allerdings vergessen hat, die Taschen zu schließen.
Die Textilkünstlerin begleitet die Reise nur ein Stück weit, dann kommen andere Kollektive an Bord und führen überall dort, wo das „Citizenship“ vor Anker geht, ihre Praktiken vor. Dazu gehört auch die Gruppe Selbstgebaute Musik, von der zwei Mitglieder am Ufer an einem weiteren Schiffshorn schrauben. Dort lehnt auch noch am Geländer ein aus einer alten Straßenlaterne gebautes Rohrfagott, deren Doppelmembran wiederum aus einem Luftballon besteht. Recycling ist auch hier das Prinzip – und Empowerment, ergänzt einer der Instrumentenbauer.
Das Schiff wiegt 18 Tonnen, Kapitänin Blawert lenkt es mit leichter Hand
Dann wird es ernst, Kapitänin Julia Blawert, ansonsten Künstlerin in Leipzig, drängt zum Aufbruch. Zur Vorbereitung für ihren neuen Job musste sie einen Sportbootschein machen. Jetzt steht sie lässig an der riesigen Ruderpinne und lenkt das 18 Tonnen schwere Schiff in die Mitte des Flusses. Die Reise beginnt.