Warum die Auftritte des DHB-Teams Hoffnung machen
Am Ende rissen sie alle die Arme hoch, sie tanzten im Kreis zusammen und genossen den Applaus der Fans. Mit dem 30:29-Sieg gegen Russland gab es für die deutsche Handball-Nationalmannschaft doch noch ein kleines Happy End zum Abschluss der Europameisterschaft. „Ich bin sehr stolz auf die Mannschaft”, sagte Bundestrainer Alfred Gislason. „Es ist schön, dass wir uns noch belohnen konnten für den Kampf und all das, was wir hier geleistet haben.“
Zu diesem Zeitpunkt hatte ein Großteil seiner Mannschaft Bratislava schon verlassen müssen. Unter ihnen Julius Kühn und Kai Häfner, die so maßgeblich die Vorrunde bestimmt hatten und zu den Säulen der neu zusammengestellten Mannschaft avancierten. Doch das Coronavirus hatte andere Pläne. Die beiden Melsunger erhielten, ebenso wie 13 weitere Spieler, in den vergangenen Tagen positive PCR-Tests ausgehändigt und mussten im Anschluss das in Ungarn und der Slowakei ausgetragene Turnier vom Fernseher aus verfolgen.
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Und da sahen sie eine Mannschaft, die sich von Spiel zu Spiel steigern konnte. Eine Mannschaft, die zwar viele technische Fehler produzierte, letztlich aber durch Kampfgeist und Engagement einiges wieder gut machen konnte. So zumindest gegen Belarus, Österreich und Polen.
In der Hauptrunde änderte sich das Bild. Durch die zehn Nachnominierten verfügte das Team rein formell über mehr Erfahrung, allerdings haperte es an der Eingespieltheit. Es waren Kleinigkeiten, die gegen den Titelverteidiger Spanien, gegen den EM-Dritten Norwegen und den Vize-Weltmeister Schweden zum entscheidenden Faktor wurden, gleichzeitig aber wenig Zweifel an der aktuellen Lage des deutschen Handballs aufkommen ließen: Mit den Großen können die Deutschen momentan nicht mithalten.
Deutschland muss sich keine Gedanken um neue Talente machen
Und dennoch gibt es viele positive Aspekte. Es gelang Gislason trotz der widrigen Bedingungen zwei Abwehrsysteme zu etablieren und im Angriff für mehr Variabilität zu sorgen. Beim fehlerbesetzten Auftritt der Schweden reichte das sogar fast zu einem Sieg – auch weil die deutsche Mannschaft defensiv zu alter Stärke gefunden hatte.
Weiter hat das Turnier gezeigt, dass sich Deutschland nach dem personellen Umbruch, der mit den Rücktritten von Steffen Weinhold, Uwe Gensheimer und Hendrik Pekeler einherging, keine Gedanken um neue Talente machen muss. Da ist ein Lukas Zerbe, der auf Außen nicht nur kaltschnäuzig im Abschluss agiert, sondern genauso konsequent in der Abwehr kämpft.
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Da steht ein Till Klimpke im Tor, der sich nicht hinter den breiten Schultern von Andreas Wolff verstecken muss. Und dann ist da ein Julian Köster, der mit seinen 21 Jahren Handball Deutschland begeistern konnte, weil er ohne Scheu immer wieder seine Chance sucht und nutzt. Weil er trotzdem noch den Nebenmann sieht und fähig ist, den Ball im entscheidenden Moment weiterzuspielen. Und weil er sich durch seine Leistung in der Abwehr selbst komplettiert.
Köster steht für das, was der Deutsche Handballbund als Konzept ausgibt
Köster, der im Alltag „die Zweite Liga in Grund und Boden spielt”, wie es sein Mannschaftskollege Timo Kastening ausdrückte, hat wohl die auffälligste Visitenkarte im Team der Deutschen hinterlassen und so manch einen Verein auf sich aufmerksam gemacht. Dabei besticht der Gummersbacher nicht nur durch seine Explosivität auf dem Feld, sondern ebenso durch seinen besonnenen Habitus abseits des Spielgeschehens.
„Ich habe das Vertrauen der Mannschaft gespürt und konnte deswegen frei aufspielen”, sagte Köster nach einem seiner ersten Auftritte. „Das war aber schon crazy, wenn man in den Bus einsteigt und in so viele neue Gesichter sieht. Ein cooles Gefühl, die Leute mal live zu sehen, die ich sonst nur aus dem Fernsehen kannte.”
Jetzt ist er derjenige, den die Zuschauer an den Empfangsgeräten bestaunen dürfen. Vielleicht bald auch in den wöchentlichen Übertragungen aus der Bundesliga, mit großer Sicherheit aber bei den kommenden Turnieren. Denn Köster personalisiert genau für das, was der Deutsche Handballbund momentan als Konzept ausgibt: eine junge Mannschaft mit Potenzial, von der man sich in den kommenden Jahren wieder Titel erhofft.
„Es gibt mir ein gutes Gefühl, dass wir mit der kompletten Mannschaft vielleicht sogar das Halbfinale erreicht hätten”, sagte Gislason, dessen Vertrag vor der Europameisterschaft langfristig verlängert worden war. Die Kontinuität sollte stärker forciert werden, anstatt Erfolgsdruck aufzubauen. Dafür steht auch das ausgerufene „Jahrzehnt des Handballs” mit drei Heimturnieren ab 2024. Insofern bleibt noch Zeit, um das Team weiterzuentwickeln. Der erste Schritt ist aber schon getan.