„So eine politische Farce ist riskant“
Peter Lund, 1965 geboren, ist Autor, Regisseur und seit 2002 Professor am Studiengang Musical/Show der Universität der Künste Berlin. Der Komponist Thomas Zaufke wurde 1966 geboren. Zusammen haben Lund und Zaufke 15 Musicals herausgebracht. Viele davon sind preisgekrönt und gehören zum festen Repertoire an deutschsprachigen Bühnen.
In Stücken wie „Babytalk“, „Elternabend“, „Held Müller“ oder „Stimmen im Kopf“ verarbeiten sie zeitgenössische Themen. In der von Lund initiierten Kooperation zwischen UdK und Neuköllner Oper entstehen regelmäßig unkonventionelle Uraufführungen mit Musicalabsolventinnen.
Das jüngste, “Eine Stimme für Deutschland”, feiert am 11. Juni, 20 Uhr, Premiere in der Neuköllner Oper und läuft bis Ende Juli.
In der Musicalfarce bewerben sich in der Provinz zwei Frauen um das Amt der Bürgermeisterin: Die Grüne Regula Hartmann-Hagenbeck und die AfD-Kandidatin Alina Deutschmann. Bald sind sich nicht nur die Frauen, sondern auch ihre Töchter spinnefeind. Der musikalische Grabenkrieg erfasst alle Generationen, erzählen die Musicalmacher im Interview.
Herr Lund, Herr Zaufke, Sie sind als Off-Musicalkönige dafür bekannt, gesellschaftskritische Themen anzupacken. Was prädestiniert das Musiktheater dafür?
LUND: Alles. Musiktheater war immer gesellschaftskritisch. Ob es „Figaros Hochzeit“ ist oder Offenbachs „Pariser Leben“, genauso „La Traviata“ oder „Cosí fan tutte“, alles aktuelle Stücke ihrer Zeit.
ZAUFKE: Was vermeintlich leicht daher kommt, hat oft Spitzen, wenn man genau hinhört.
LUND: Das kranke ist ja: Musiktheater war immer aktuell – außer heute. Es ist ein Skandalon ohne Ende, wie sich das Musiktheater von der Welt abgekoppelt hat und stattdessen eine „Medea“ nach der anderen über die Staatsopernbühnen rollt. Das Amüsier-Musical gab es natürlich immer als Geldverdienschiff. Doch selbst eine Operette wie das „Weiße Rössl“ war damals ein spöttisches, modernes Stück, deswegen ist es so gut. Den Anspruch, relevant von der Zeit zu erzählen, predige ich seit dreißig Jahren. Trotzdem geht es in der deutschen Theaterlandschaft meist darum, die Häuser zu füllen. Das hat ernsthafte Autoren zu keiner Zeit interessiert.
ZAUFKE: Immerhin werden unsere Musicals flächendeckend an Stadttheatern im deutschsprachigen Raum nachgespielt.
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Lässt sich sogar das Erschrecken über das Erstarken der neuen Rechten per leichter Muse bannen? Das versuchen Sie ja in „Eine Stimme für Deutschland“.
LUND: Wir und meine Studierenden vom UdK-Studiengang Musical, die ja wieder mitmachen, haben das lange diskutiert. So eine politische Farce ist ein riskantes Projekt, das kannst du richtig schön daneben liegen. Also musste ich das Ensemble fragen, traut ihr euch das?
ZAUFKE: Sie haben ja gesagt. Obwohl hinterher sicher jemand im Publikum sagt, so simpel, wie ihr die politische Landschaft darstellt, ist sie nicht.
LUND: Wir wägen nicht linke und rechte Inhalte gegeneinander ab, sondern wir machen ein Stück über die Verrohung der Sitten. Die Geschichte spielt pars pro toto in einer Kleinstadt, steht aber für Deutschland. Die zynische AfD-Kandidatin für das Bürgermeisteramt Alina Deutschmann hat es geschafft, die absolute Mehrheit der Rechten steht bevor. Die Grünen-Kandidatin kann es nur mit der CDU zusammen schaffen, ihren Sieg zu verhindern. Die AfD – eine kabarettistisch sehr ergiebige Partei – treibt den ganzen Verein mit Nadelstichen und gezielten Provokationen vor sich her. Die Grünen-Politikerin ist völlig am Ende und übernimmt deren Terminologie. Die AfD steckt alle an, alle werden radikaler. Der Konflikt überträgt sich auch auf deren Töchter. Das heißt, wir spielen „Krieg der Knöpfe“ auf dem Schulhof zwischen Grünen und AfD – auch als eine Art deutscher Familiengeschichte.
Das Musical trägt den Untertitel „Die musikalische Quittung“: Wer erhält die?
ZAUFKE: Wir alle haben uns politisch einlullen lassen und nicht aufgepasst und bekommen jetzt die Quittung.
LUND: Unsere Geschichte ist natürlich eine naive Lesart, eine Asterix-und Obelix-Fassung des Wahlkampfs, aber sie könnte trotzdem stimmen. Wir Deutsche vergessen immer, dass wir mit den rechten Arschlöchern verwandt sind, also müssen wir in den Dialog treten. Einen AfDler zu bekehren, maße ich mir nicht an. Aber der Grünen-Klientel, zu der ich selbst gehöre, kann ich sagen: Ihr seid ganz schön selbstgerechte Würstchen.
Herr Zaufke, wie charakterisieren Sie musikalisch eine Grüne und eine Rechte: durch Deutschpop und Volksliedgut?
ZAUFKE: Ein Grundproblem, dass wir klären mussten, war, ob wir den „Bösen“, sprich der AfD, eine ebenso gute Musik geben sollen, wie den „Guten“, also den Grünen. Soll ich für die AfD schlecht komponieren? Nein. Das wäre viel zu platt. Also sind wir auf die Idee gekommen, einen Ritt durch die deutsche Musikgeschichte zu unternehmen. Nun klingt der Song „politischer Faktenscheck“ wie eine Passacaglia von Bach, der Rant der Tochter der Grünen, die Greta-Thunberg-Fan ist, wie eine Beethoven-Sonate und das Hassduett von Alina Deutschmann und ihrer Tochter hat was von Brecht-Weill.
LUND: Genauer von Brecht-Weill goes Barock.
ZAUFKE: Aber die AfD-Politikerin bekommt auch einen schönen Bierzeltschlager, wo alle Leute mitklatschen. Der heißt: „Ein bisschen Hetze, ein bisschen Häme“ (beide fangen an zu singen).
Wie zeichnen Sie Grünen-Kandidatin Regula Hartmann-Hagenbeck musikalisch?
ZAUFKE: Die soll auf keinen Fall Reinhard Mey zur Gitarre singen. Bei ihr bin ich eher über die Dramatik gegangen, sie singt eine klassische Popballade, gewissermaßen als Céline Dion der Grünen. Mit sehr viel Rezitativ ins Opernhafte hinein und einer eingängigen Franko-Pop-Melodie. Im Musical hat man nur wenig Zeit, die Leute zu charakterisieren, da muss schnell ein Gefühl entstehen. Was gar nicht geht: einfach eine Partei mit Volksliedzitaten oder dumpfen Songs zu denunzieren.
Das Musical spielt in der Provinz, wo, wie Sie sagen, „die wirklichen Trends gesetzt werden“. Da kennen Sie sich als Berliner doch gar nicht aus.
LUND: Und ob ich mich da auskenne. Ich komme aus Ulstrup, zehn Kilometer von Flensburg entfernt, meine Mutter hat dort jahrelang im Gemeinderat gesessen.
ZAUFKE: Und ich aus Bremen, das ist auch Provinz.
LUND: Letztes Jahr habe ich sechs Wochen in Flensburg inszeniert und dort im Biotop meiner pubertären Jugend das Buch geschrieben.
Sie switchen coronabedingt seit Monaten mit dem Premierendatum und dem Aufführungsort hin- und her. Auch Openair-Premieren im Hof des Rathauses Neukölln und im Eisstadion waren im Gespräch. Liegen die Nerven bei Ihnen und dem Ensemble, sprich den UdK-Studierenden, blank?
LUND: Komischerweise nicht, wir sehen jetzt das Happyend. Wenn das klappt, haben wir mehr Glück als Verstand, dann kommen wir nur sechs Tage später mit dem Stück raus, als anfänglich geplant. Sollte es sich wieder verschieben, werden die Musicalabsolventinnen langsam unruhig. Die wollen ja raus in den Beruf.
Wie lief die Ausbildung in der Pandemie?
LUND: Online-Studium war für die Studenten gruselig. Der Tanz lag völlig darnieder. Da gibt es jetzt konditionell und inhaltlich auch Defizite, die sie wieder aufholen müssen im letzten halben Jahr. Das ist auch zu schaffen. Der Theorieunterricht lief ganz normal weiter. Zusätzlich haben sie viel über Film gelernt durch die ganzen Videocalls, hurra. Und die Pandemie hat die Sinne geschärft. Die Studierenden haben nicht aufgehört zu denken. Ihre Selbstwahrnehmung ist nicht zu kurz gekommen. Das reine Handwerk, das Können, schon. Zusätzlich stapeln sich jetzt drei Jahrgänge auf dem Markt, die alle Jobs haben wollen.
ZAUFKE: Nicht nur die neuen Stücke liegen auf Halde, sondern auch die Leute, die sie spielen. Meine Tantiemen-Situation ist gruselig. In Deutschland, Österreich und der Schweiz hätte 2020 viel von mir gespielt werden sollen, alles ist ausgefallen, ich brauchte Überbrückungshilfe.
Wie wird sich die Pandemie auf das Musiktheater auswirken?
ZAUFKE: Da liegt eine Chance für Veränderungen drin.
LUND: Das große Musiktheater muss man jetzt doppelt infrage stellen. Mit zig Mann im Orchester und zig im Chor ist das wirklich ein unglaublich teures, museales Ding. Und das gibt es in Variationen in jedem dritten deutschen Stadttheater. Das wurde nie genug genutzt. Viele Provinzstädte unterhalten biedere Abspieltheater für ein Standardrepertoire. Da gibt es weder eine Aufbruchstimmung in Sachen neues Material, noch ein Selbstverständnis als Kulturbetrieb in der Stadt, der beispielsweise mit seinem Jugendclub schon die Ausbildung des Nachwuches anstößt. Dieses arrogante System gehört kräftig angeschossen. Jede Stadt hat einen Bach-Chor, der ohne Geld besser klingt als der Theaterchor. Dabei könnte man den semiprofessionell einbinden. Oder du hast eine 20-Leute-Basisbesetzung im Orchester, die von Offenbach bis Musical alles kann, und assoziierst dich mit den örtlichen Musikschulen, wenn Großprojekte anstehen. Da braucht es kreativere Strukturen.
Auch beim privat produzierten Musical?
LUND: Auch Musicalproduzenten wie Stage Entertainment, die in Berlin das Theater des Westens bespielen, müssen sich umstellen. Es gibt kaum noch große, weltumspannende Stoffe. Stage hat die letzten Jahre händeringend in Amerika gesucht, aber die meisten Identitätserzählungen wie der Broadwayhit „Hamilton“ funktionieren nur im jeweiligen Land. Da müssen wir auch in Deutschland ran.
Was wäre denn die deutsche Identitätserzählung?
ZAUFKE: Schopenhauer – Das Musical.
LUND: Um Gottes Willen. „Hamilton“ war großartig, weil Lin-Manuel Miranda ein moderner Komponist ist, der Rap und Jazz im kleinen Finger hat, und sein ethnisch gemischtes Ensemble ganz selbstverständlich auf die Bühne gestellt hat. Das gibt es bei uns nicht.
Einstweilen bieten Sie mit „Eine Stimme für Deutschland“ nicht nur eine Wahlkampfanalyse an, sondern auch die Heilung gesellschaftlicher Spaltung. Wie das?
LUND: Nach dem sich alle gründlich zerstritten haben, geraten sie in einen Entschuldigungswahn. Das ist sesamstraßennaiv, aber ein großartiger Knaller.
Auwei, das gibt Verharmlosungs-Haue.
LUND: Irgendein Promi hat gesagt, wir können den Shitstorm nicht verhindern, wir müssen uns an ihn gewöhnen. Die öffentliche Meinung ist gnadenlos zur Zeit, von einer Härte und einem fehlenden Verständnis des Anderen getragen. Es ist eine Dauerabkanzelung mit Vorwürfen wie: Du hast nicht gedacht, du bist nichts wert. Da muss man sich wirklich hinstellen und sagen: Lacht oder lasst es bleiben.
ZAUFKE: Unser Schlussplädoyer ist eine Aufforderung zur Toleranz „Lasst sie doch alle sein wie sie wollen“ und wird acapella im Chor gesungen.
LUND: … aber diesmal mit dem Zusatz: Aber benimm dich ordentlich.
ZAUFKE: Im Lied heißt das dann „Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte, und das ist selten die politische Mitte“.