Fahrende Gesellin
Es ist ein Zeichen von schöner Symbolik, wenn Anna Prohaska am Tag der Deutschen Einheit im Nikolaisaal auftritt, gemeinsam mit der Kammerakademie Potsdam. Denn so kann dieses „Festtagskonzert“ auch musikalisch vom Zusammenwachsen erzählen. Das Orchester wurde vor 20 Jahren gegründet, von Mitgliedern der abgewickelten Brandenburgischen Philharmonie Potsdam und dem Berliner Ensemble Oriol. Anna Prohaska wiederum hat als Künstlerin ebenfalls eine Ost-West-Biografie, wuchs sie doch im bayerischen Neu-Ulm und in Wien auf, zog dann nach Berlin, wo sie an der Eisler-Hochschule studierte und 2006 Ensemblemitglied der Staatsoper Unter den Linden wurde.
In dieser Spielzeit hat die Kammerakademie Anna Prohaska als „Artist in Residence“ eingeladen, was bedeutet, dass die Sopranistin in Potsdam einige sehr besondere Projekte realisieren kann. Bei der Saisoneröffnung begeisterte sie mit Raritäten von Mozart und Haydn, im Dezember wird sie, wiederum unter der Leitung von Chefdirigent Antonello Manacorda, Benjamin Brittens „Les Illuminations“ singen, im Januar ist dann der Schauspieler Lars Eidinger ihr Partner bei einem Abend, der die Shakespeare-Figur der Ophelia in den Mittelpunkt stellt.
Kammerbesetzung statt Riesenorchester
„Persönlich“ lautet das Motto für Anna Prohaskas Konzert am Tag der Deutschen Einheit, und die Sängerin hat sich – vielseitig interessiert, wie sie ist – dafür keine Schmankerl des Kernrepertoires ausgesucht, sondern Überraschendes und Anspruchsvolles. Gustav Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“ werden normalerweise von einem Bariton interpretiert, der dabei durch ein Riesenorchester begleitet wird. Denn der Komponist hat 1896 seinem ursprünglichen Klavierliederzyklus in ein opulentes, mehrteiliges Tongemälde verwandelt.
Anna Prohaska erzählt die Liebesleidgeschichte am Sonntag nun aus weiblicher Perspektive, und es stehen ihr dabei nur 17 Instrumentalist:innen zur Seite. Doch das Arrangement ihres Lehrers Eberhard Kloke vermag den Klangfarbenreichtum des Originals geschickt für die kleine Besetzung zu adaptieren, einschließlich aparter Details wie dem angemessen jammervollen Ton des Harmoniums bei den Worten: „O Augen blau! Warum habt ihr mich angeblickt? Nun hab’ ich ewig Leid und Grämen!“
Die Lieder changieren zwischen psychologischer Seelenschau und absichtsvoll naiver Volkstümlichkeit, und Anna Prohaska verbindet souverän beide Ausdrucksebenen, leidet opernhaft, wenn sie vom glühenden Messer in ihrer Brust singt, legt für verklärte Ende unterm Lindenbaum Süße und Goldglanz in die Stimme. Einen schönen, langen Moment herrscht ergriffene Stille im Saal, bevor begeisterter Applaus einsetzt.
Schönbergs Musik strebt nach absoluter Freiheit
Arnold Schönbergs 2. Streichquartett erlaubt der Sängerin, ihre Stimme kurz auszuruhen, weil sie erst im 3. und 4. Satz gebraucht wird. Yuki Kasai, Maia Cabeza, Jennifer Anschel und Ulrike Hofmann beglaubigen also zunächst rein akustisch, was Anna Prohaska in ihrer Moderation gesagt hat: Dass diese Musik über die Grenzen der traditionellen Tonalität hinausdrängt, so stark, bis sie im Finale geradezu „gasförmig“ wird. Darüber schwebt dann die ausdrucksvolle Stimme der Sopranistin, Verse von Stefan George halb rezitierend, halb singend: „Ich fühle Luft von anderen Planeten“. 113 Jahre ist dieses Stück nun schon alt – in seinem Freiheitsdrang aber weiterhin faszinierend provokant.