Primaballerina mit Mission
Kurz vor zehn Uhr trudeln die Tänzer und Tänzerinnen des Staatsballett Berlin im großen Ballettsaal im fünften Stock der Deutschen Oper ein. Bevor das Training beginnt, checken sie noch kurz die Probenpläne, füllen ihre Wasserflasche auf. An diesem Tag sind wieder neue Gesichter zu sehen.
Auf den Gängen hört man auch Ukrainisch. Eine Solistin, die bis vor kurzem beim Opernballett Kiew tanzte, nimmt zum ersten Mal an der Morgenklasse teil. Sie hat eine stolze Haltung und zieht die Blicke auf sich. Man merkt ihr nicht an, was sie in den letzten Wochen durchgemacht hat. Bei den Exercises legt sie sich richtig ins Zeug. Sie scheint es zu genießen, wieder ihre Kraft zu spüren. Das Training ist ein erster Schritt in Richtung Normalität.
In Form bleiben ist wichtig, auch nach der Flucht.
In einem der kleineren Studios steht Anastasia Paly an der Stange und macht konzentriert ihre Tendus und Pliés. Die 26-Jährige stammt aus Kiew, in den letzten sieben Jahren tanzte sie beim Ballett in Odessa. Sie floh gleich am 24. Februar aus ihrer Heimat, verbrachte zwei Wochen in Rumänien und fuhr dann weiter nach Berlin, wo sie bei Freunden unterkommen konnte.
Sie wirkt gefasst, als sie von ihrer Flucht berichtet. Doch sie deutet an, wie belastend die Situation für sie ist. Ihre Eltern sind noch in Kiew, und sie sorgt sich sehr um sie. Einen Monat habe sie nicht trainieren können. Es sei ihr aber ganz wichtig, in Form zu bleiben. Paly hat sich per Email ans Staatsballett gewandt, mit der Bitte, am Training teilnehmen zu dürfen. Jetzt ist sie auf der Suche nach einem Engagement irgendwo in Europa.
Salenko hilft beim Übersetzen
Iana Salenko ist eingesprungen, um zu übersetzen, und nickt Paly aufmunternd zu. Salenko, in Kiew geboren, tanzte zunächst beim Ballett in Donezk, 2002 wurde sie Erste Solotänzerin an der Nationaloper Kiew; 2005 wechselte sie zum Staatsballett Berlin, seit 2007 ist sie Erste Solotänzerin.
Sie ist mit ihrem Kollegen Marian Walter verheiratet; das Paar hat drei Söhne, der Jüngste ist sechs Monate alt. Ihre Mutter lebt derzeit bei ihr in Tegel und hilft ihr bei der Betreuung der Kinder.
Als Salenko am 24. Februar aufstand, sah sie ihre Mutter weinend auf der Treppe stehen. Von ihrem Mann erfuhr sie, dass russische Truppen in die Ukraine marschiert waren. Der Rest ihrer Familie ist in Kiew – täglich erreichen sie Schreckensnachrichten aus der Heimat. Manchmal hört sie im Hintergrund die Sirenen heulen.
„Ich habe mit meinen Gefühlen gekämpft“, erzählt sie. In den ersten Tagen des Krieges sei sie so wütend gewesen, habe sich so hilflos und verletzlich gefühlt, doch für sie stand fest, dass sie nicht tatenlos zusehen kann. Nun hat sie eine neue Aufgabe. Sie engagiert sich für ukrainische Tänzer:innen, die auf der Flucht sind.
Oft ist sie die erste Ansprechpartnerin für diese Kolleg:innen und dank ihrer glänzenden internationalen Kontakte auch eine Art Jobvermittlerin. Vor kurzem hat sie sich für eine junge Tänzerin aus Mariupol eingesetzt, die jetzt einen Vertrag bei einer Ballettcompagnie in Bulgarien bekommen hat. Als sie davon erfuhr, weinte sie vor Freude. „Ich bin so glücklich, dass ich den Menschen helfen kann.“
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Die Solistin aus Kiew winkt ihr lächelnd zu. Salenko hat auch sie ermutigt, nach Berlin zu kommen. Doch sie kümmert sich nicht nur um Tänzer:innen, die beim Staatsballett unterkommen wollen. Mittlerweile hält sie Kontakt zu mehr als 300 Geflüchteten, darunter auch kleine Kinder.
Sie verschickt Voicemails, berät die Gestrandeten auch in Alltagsdingen. Man spürt, wie aufgewühlt Iana Salenko ist. In der letzten Nacht habe sie nur zwei Stunden geschlafen, berichtet sie, doch das gehe in Ordnung. Sie geht ganz in ihrer neuen Aufgabe auf, spricht von ihrer „Mission“.
Dazu gehört, Spendengelder für humanitäre Hilfe für die Ukraine zu sammeln. Dafür nutzt die Primaballerina auch die sozialen Medien. Zusammen mit ihrem Kollegen Oleksandr Shpak hat sie außerdem eine Benefiz-Gala mit dem Titel „Ballet for Life“ organisiert, die am 21. April im Berliner Admiralspalast stattfindet. Salenko eröffnet den Abend mit einem Solo zu dem Song „Obiymy“ der ukrainischen Band Okean Elzy.
[Schirmherr ist der Botschafter der Ukraine in Deutschland Andrij Melnyk. Die Kasseneinnahmen aus der Veranstaltung sollen direkt auf das Spendenkonto der ukrainischen Botschaft in Berlin fließen und ausschließlich für humanitäre Hilfe in der Ukraine verwendet werden. Tickets: www.ticketmaster.de/artist/balet-for-life-by-iana-salenko-benefiz-gala-fur-die-ukraine-tickets/1165544]
Berlin ist die erste Anlaufstelle für viele Menschen, die wegen des Kriegs aus der Ukraine geflohen sind – das spiegelt sich auch im Mikrokosmos des Staatsballetts wieder. An die 200 Anfragen von geflüchteten Tänzer:innen aus der Ukraine und aus Russland haben die Compagnie schon erreicht.
Am 24. Februar war der kommissarischen Intendantin Christiane Theobald noch nicht klar, was auf das Ensemble zukommen würde. „Dass dieser Exodus an Tänzer:innen stattfinden würde, hatte ich erstmal nicht auf dem Schirm. Am Tag 4 des Angriffskrieges kamen dann die ersten Mails.“
Ganz anders ist die Situation in München. Das Bayerische Staatsballett hat bislang nur vereinzelte Anfragen erhalten. Das liegt wohl daran, dass die Compagnie bis vor kurzem von einem Russen geleitet wurde. Igor Zelensky ist nach massivem Druck inzwischen zurückgetreten – aus privaten Gründen, wie es heißt.
Theobald hat die Türen geöffnet
Theobald hat sich schnell entschieden, die Türen für geflüchtete Tänzer:innen zu öffnen. Eine Zugangsbeschränkung gibt es: Wer als Gast am Training teilnimmt, muss vorher einen PCR-Test machen lassen. Sie hat bereits einen Sponsor gefunden, der die Kosten übernimmt. Zwölf Leute können zusätzlich im Training dabei sein, dann sei die Kapazitätsgrenze erreicht. „Wenn es mehr sind, müssten wir ein separates Training anbieten“, sagt Theobald. „Aber im Moment bekommen wir das ganz gut ausbalanciert.“
Die Hilfsbereitschaft seitens des Ensembles sei groß. Spannungen innerhalb der Compagnie, der auch russische Tänzer:innen angehören, gebe es keine. Das bestätigt auch Ksenia Ovsyanick, die aus Belarus stammt: „Wir Tänzer stehen alle auf derselben Seite.“ Das Ballett, das viele für eine antiquierte Kunstform halten, ist plötzlich politisch geworden.
Viele Ukrainer suchen Engagements
Viele der ukrainischen Tänzer:innen sind inzwischen weitergezogen auf der Suche nach Engagements. Martin Schläpfer, Direktor des Wiener Staatsballetts, hat zwei Tänzer aufgenommen. Svetlana Bednenko ist beim Ballett am Rhein untergekommen. „Was sofort funktioniert hat, ist die Vernetzung der internationalen Ballettdirektor:innen“, sagt Theobald.
Es hat etwas gedauert, aber mittlerweile haben auch die BBTK (Bundesdeutsche Ballett- und Tanztheaterdirektor:innen-Konferenz) und der Dachverband Tanz Deutschland die Plattform www.help-dance.org eingerichtet, die Unterstützung anbietet für geflüchtete Tanzschaffende.
Ausländische Tänzer setzen sich aus Russland ab
Auch ausländische Tänzer, die in Ballettcompagnien in Moskau oder St. Petersburg engagiert waren, haben sich mittlerweile abgesetzt. David Motta Soares war einer der führenden Solisten des Bolschoi-Balletts. Als er durch seine Eltern in Brasilien von den Bombardements ukrainischer Städte durch die russische Armee erfuhr, hat er sich entschlossen, Russland zu verlassen. Die Leute hätten Angst, etwas zu sagen – nicht nur am Bolschoi-Theater, erzählt er.
Am 4. März flog er nach Italien, wo er Zuflucht bei einem Freund fand und kontaktierte dann sofort Christian Spuck, den zukünftigen Intendanten des Staatsballetts Berlin. Der hatte Soares schon früher ein Angebot gemacht und bot ihm gleich einen Vertrag als Erster Solist an.
Zwei weitere Brasilianer:innen – einen Mann und eine Frau – die vorher am Bolschoi tanzten, hat das Staatsballett neu engagiert. Jetzt sind noch drei Positionen für Damen zu besetzen. Spuck kann mitentscheiden. Vielleicht folgt er ja dem Beispiel seiner Kollegen und stellt eine ukrainische Tänzerin ein. Damit könnte das Staatsballett ein Zeichen setzen.