Wenn der Täter mein Täter ist, ist er kein Täter mehr
Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des MDR in Leipzig. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer.
Glaubt Tucker Carlson heute, nach all den Jahren der Tiraden und Lügen, all das, was Tucker Carlson Abend für Abend so erzählt? Glaubt er, dass Joe Biden dement ist? Dass Donald Trump, Viktor Orbán und Wladimir Putin ehrliche, ernsthafte Politiker sind? Dass der Sturm auf das Kapitol, am 6. Januar 2021, eine angemessene Demonstration war, weil Joe Biden durch Wahlbetrug gewonnen hatte? Dass Impfungen und Masken staatlicher Terror sind und der Epidemiologe Anthony Fauci ein Faschist? Glaubt er, dass die Ukraine gemeinsam mit den USA Biowaffen produziert hat und Russland einen gerechtfertigten Krieg begonnen hat?
Tucker Carlson denunziert, verdreht, hetzt und lügt zur besten amerikanischen Sendezeit, um 21 Uhr an der Ostküste, bei FOX News. Die Frage, ob er die eigenen Lügen glaube, wird in Amerikas Medienwelt heftigst debattiert. Antwort, zumeist: Nein, der ist zu klug, der kalkuliert nur. Ist das aber wichtig, ob Täter wie Carlson Opportunisten oder Überzeugte sind? Antwort: Nein, wenn sie tun, was sie tun, zählt die Tat.
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Tucker Carlson, 52, in San Francisco geboren und liberal aufgewachsen, vierfacher Familienvater und seit Jahrzehnten stolz und selbstverständlich zuhause in jenem elitären Washington, das er in seiner Show als elitär beschimpft, war einst ein guter Autor politischer Reportagen. Er war auch vor der Kamera nicht übel, damals bei CNN und bei MSNBC, wenngleich nicht richtig erfolgreich: zu glatt, nichts blieb in Erinnerung außer eindrucksvollen Krawatten.
Als bei FOX News Megyn Kelly dem Präsidentschaftskandidaten Donald Trump widersprach und vom Bildschirm verschwand, bekam Carlson ihren Platz, pries Trump und lernte schnell: Wer die Spaltung der Gesellschaft betreibt und zugleich behauptet, das Vaterland zu lieben, welches die Anderen, im konkreten Fall die Demokraten offensichtlich zerstören wollten, profitiert von eben dieser Spaltung. Denn erst durch die Polarisierung wird der Spalter zur Stimme der vorgeblich größtmöglichen Sache und damit zum Star. Der Preis für alle anderen könnte größer nicht sein.
„Sie können nun die Demokratie unterminieren und damit durchkommen“
Demokratien sollten sich selbst retten können, eigentlich, das ist ihr Sinn: Wer mies regiert, wird ausgetauscht. Im Zeitalter der Polarisierung funktioniert das nicht mehr. Auf der politikwissenschaftlichen Ebene gibt es mehrere Studien, die allesamt eines belegen: In gespaltenen Gesellschaften verzeihen Wählerinnen und Wähler dem Herrscher aus dem eigenen Lager jegliche Hetze, sogar Korruption und allerlei mehr – um nicht den Rückhalt der Gruppe zu verlieren und um nicht den Feind wählen zu müssen.
Mehr dazu bei Tagesspiegel Plus:„Eine Marionette von Biden“: Tucker Carlson hält bei Fox zu Putin. Der Kreml dankt es
Nur noch 3,5 Prozent der Wählerschaft der USA seien bereit, die Verletzung demokratischer Regeln bei der nächsten Wahl zu bestrafen: Wenn der Täter mein Täter ist, ist er kein Täter mehr, da unsere Tat ja für Gott oder das Vaterland oder jedenfalls diese gewaltige Sache begangen wird. Milan Svolik, Yale-Politologe, schreibt in „Polarization versus Democracy“, dass angehenden Autokraten eine bereits strukturell verankerte Gelegenheit geschenkt werde: „Sie können nun die Demokratie unterminieren und damit durchkommen.“
Auf der realpolitischen Ebene rechtfertigen Leute wie Carlson einen nicht zu rechtfertigenden Krieg, und ihre Worte wirken: In Russland wird „Tucker Carlson Tonight“ in die staatliche Propaganda eingewoben. In den USA trübt Carlson das Wasser, wie das dort genannt heißt: Die Wirklichkeit ist vermutlich noch existent, aber nicht länger erkennbar; und wenn erst die Dringlichkeit schwindet, ist Handeln nicht länger nötig.