Kunstgespräch im Engadin: Lehrstunde in Widerständigkeit
Keinen Geringeren als den deutschen Alt-Bundespräsidenten Joachim Gauck boten die diesjährigen „Engadin Art Talks“ als Eröffnungsredner auf. Sein Vortrag am zurückliegenden Sonnabend hatte mit Kunst weniger zu tun, war dafür aber eine Lehrstunde in Sachen Widerständigkeit gegenüber Diktaturen.
Was Gauck ausführte, ist beglaubigt durch den eigenen Lebensweg, dessen christliche Färbung er im Rückblick auf die eigene Kindheit plastisch machte. Doch in der „Daseinsgewissheit“, die er als lebenspraktische Schlussfolgerung zog, gab er dem Motto der im beschaulichen Ort Zuoz abgehaltenen Vortragsreihe, „Hoffnung? Hoffnung!“, eine für auch wenig religiöse Teilnehmer annehmbare Färbung.
„Hoffnung“ ist ein zumal christlich besetztes Thema, darauf verwies der „Art Talks“-Mitorganisator Philip Ursprung, im Hauptberuf Professor für Architekturgeschichte an der renommierten ETH Zürich. Kulturmenschen lassen sich darauf ungern verpflichten, und schon gar Friedrich Nietzsche, der im nahen Sils mehrere Sommer verbrachte, hatte für Hoffnung nur Verachtung übrig, wie Ursprung einflocht. Nur um danach die Verwandtschaft von Hoffnung und künstlerischer Utopie um so deutlicher herauszustellen.
Ansonsten gilt auch im Engadin der bekannte Satz, dass Kunst ist, was Künstler machen. Etwa die 94-jährige Barbara Stauffacher Solomon, eine amerikanische Künstlerin, die für das nahgelegene, ungleich größere und vor allem mondänere St. Moritz ein 24 Meter langes und vier Meter hohes Schriftband mit dem Wort „Welcome“ gestaltet hat, das nun am Bahnhof prangt und über den winterlich zugefrorenen See hinweg weithin sichtbar grüßt.
„Bobby“ Solomon, die sich der Reise über den Atlantik nicht mehr aussetzen mochte, war den „Art Talks“ per Video zugeschaltet, während Ai Weiwei, der nun wahrlich in aller Welt heimische Künstler, persönlich anwesend war. Im Gespräch mit dem gleichermaßen allgegenwärtigen, hauptsächlich in London ansässigen Kurator Hans Ulrich Obrist freilich wollte sich Ai Weiwei nicht auf eine Rolle als Hoffnungsgeber festlegen lassen, und zu den gegenwärtigen Verhältnissen in China, wo er die Allmacht des Regimes vor Jahren als politischer Häftling hatte erfahren müssen, nahm er nur sehr hoffnungsarm Stellung.
Die Allmacht des Regimes
Von Protesten politischer Art hält er nicht viel, jedenfalls heute nicht mehr, wie er beiläufig einfließen ließ. Am Vorabend hatte er in einer St. Moritzer Galerie eine Ausstellung mit aus Legosteinchen gepixelten Bildern chinesischer Tierkreiszeichen eröffnet, dicht umringt von einem weltläufigen Publikum, dem ganz sicher nicht der Sinn nach politischen Aktionen stand.
Hans Ulrich Obrist, im Hauptberuf Direktor der Londoner Ausstellungsinstitution „Serpentine Gallery“, rangiert weit oben in der Hitliste der einflussreichsten Kunstvermittler und Ideengeber. Für die Art Talks hatte er neben zahlreichen Künstlern den in Basel lebenden, aus Mali stammenden Sprachwissenschaftler Mohomodou Houssouba verpflichtet.
Der ist damit beschäftigt, die teils von Millionen Menschen gesprochenen Sprachen seiner Heimat ins Internetzeitalter zu transportieren, etwa durch Anlage eines Lexikons seiner Muttersprache Songhay. Auch der Klimawandel durfte im Engadin nicht fehlen, ihn sprach der belgische Landschaftsarchitekt Bas Smets an, und Talks-Mitorganisator Philip Ursprung ist als Architektur-Professor damit ohnehin befasst.
Die titelgebende „Hoffnung“ der Art Talks liegt im Engadin eher auf der metaphorischen Ebene. Von den Vorträgen gestärkt, brach die zu den Talks versammelte Kunstgemeinde denn auch auf ins Muzeum Susch (mit „z“!), den in ein früheres Kloster hineingebauten Ausstellungsort der polnischen Sammlerin Grazyna Kulczyk im gleichnamigen Ort Susch. Unter dem Sonnenschein und eisblauen Winterhimmel des Engadin lebt die Hoffnung in allen Facetten prächtig auf.
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