Flug in die Dunkelheit
Das menschliche Gehirn verfügt leider nicht über eine CSMU. Die Abkürzung steht für „Crash Survival Memory Unit“, es ist die Speichereinheit in der Black Box eines Flugzeugs, die nach einem Unglück Auskunft über Absturzursache und -verlauf geben soll.
Eine Art unzerstörbares Gedächtnis, resistent gegen schwerste Erschütterungen, Feuer, Wasser. Klar, auch unsere Erinnerung kann erstaunliche Leistungen vollbringen: längst versunken geglaubte Momente aus der Vergangenheit holen, entlegene Erlebnisse über Jahrzehnte bewahren. Aber sie arbeitet vergleichsweise störanfällig.
Die Erzählung gewinnt eine bestechende Dynamik
Im Falle von Demenz zum Beispiel gibt es keinen Schutz vor der fortschreitenden Löschung der Inhalte. Auf der anderen Seite nützt die smarteste CSMU nichts, wenn die Black Box nie gefunden wird. Was ist ein Gedächtnis wert, das sich nicht mitteilen kann?
Im HAU 1 erzählt jetzt Helgard Haug, Regisseurin und Mitgründerin der Gruppe Rimini Protokoll, von einem der größten Rätsel in der Geschichte der modernen Luftfahrt. Und von ihrem eigenen Vater, der sich zunehmend selbst abhanden kommt. Beide Male geht es um eine Reise in die Nacht, beziehungsweise die Umnachtung. Um das Verschwinden, den Verlust und die Frage, wie sich Ungewissheit aushalten lässt.
Zugegeben, auf den ersten Blick mag es gezwungen erscheinen, das Schicksal von Mensch und Maschine zu verschränken. Hier der Flug MH370 der Malaysia Airlines, unterwegs von Kuala Lumpur nach Beijing, am 8. März 2014 um 1:21 Uhr Ortszeit plötzlich vom Radar verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Dort der ehemalige Pfarrer aus Süddeutschland, dem erst „Patzerchen“ unterlaufen, kleine Aussetzer und Gedächtnislücken. Und der schließlich feststellt: „Ich zerfalle in Teile“. „Ich löse mich auf“. Aber die mal parallele, mal verlinkte Erzählung gewinnt im Laufe des zweieinhalbstündigen Abends eine bestechende Plausibilität und Dynamik.
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„All right. Good night.“ ist das Stück betitelt. Angeblich lautete so der letzte Funkspruch, den der Pilot der MH370 beim Übertritt in den vietnamesischen Luftraum abgesetzt hat. Anders als gewohnt bei Rimini Protokoll stehen diesmal keine Expert:innen des Alltags auf der Bühne : schließlich geht es um Menschen, die nicht mehr greifbar sind.
Sondern fünf ausgezeichnete Musiker:innen des Berliner Zafraan Ensembles – Matthias Badczong (Klarinette), Evi Filippou (Percussion), Josa Gerhard (Violine), Martin Posegga (Saxofon) und Beltane Ruiz (Kontrabass) –, denen die Elektromusikerin und Komponistin Barbara Morgenstern eine leuchtende Partitur geschrieben hat. Ein Requiem ohne Pathos, das immer wieder Motive der Erzählung aufgreift, weiterspinnt und variationsreich bespielt. Ein Soundtrack der Vergänglichkeit, der die große Leerstelle auf der Bühne zwar füllt, aber nicht vergessen macht.
Die Geschichte entfaltet sich derweil in Passagen über Stimmen aus dem Off. Oder, hauptsächlich, über Schrifteinblendungen auf dem Gaze-Vorhang. Auch das ein stimmiges Bild von Flüchtigkeit. Bis heute weiß niemand, was an Bord von MH370 geschehen ist. Es ranken sich die wildesten Verschwörungserzählungen um dieses Enigma in einer Welt der eigentlich lückenlosen Kontrolle mit ihren eigenen Regeln und Kürzeln. Wie POB, persons on board (es waren 239). Oder LEP, last estimated position, die letzte geschätzte Position.
Eine Theorie lautet, dass der mit 18 000 Flugstunden höchst erfahrene Pilot für Druckabfall in der Kabine gesorgt hat – um das Flugzeug dann mit lauter in den Schlaf gefallenen Passagieren über die Weiten des indischen Ozeans ziehen zu lassen, bis kein Tropfen Kerosin mehr im Tank war. Warum auch immer. Nach anderen Spekulationen handelt es sich bei dem Vorfall um den ältesten Zaubertrick der Welt, ein Ablenkungsmanöver – von dubiosen Waffendeals oder ähnlichem. Man wird es wohl nie erfahren.
[nächste Vorstellungen: HAU 1, 18., 20. + 21.12., 19 Uhr]
Der Vater wiederum, von dem hier die Rede ist, bemüht sich nach Kräften, möglichst wenig Fragezeichen zu hinterlassen. Schon sechs Jahre vor den ersten Anzeichen von Demenz – zum Beispiel schickt er dem Enkel plötzlich vier fast gleichlautende Geburtstagskarten auf einmal – hat er seinen Kindern unter dem Titel „Wie ich mein Sterben leben möchte“ aufgeschrieben, was geschehen soll, wenn er zwar noch da, aber nicht mehr bei sich ist.
Über einen Zeitraum von acht Jahren verfolgt Helgard Haug in dieser großartigen Arbeit das langsame Verblassen. Sie lässt Hinterbliebene des Unglücksfluges zu Wort kommen, die Tag für Tag ohne Antworten leben müssen, auch damit, dass es ohne Leiche kein Begräbnis geben kann. Und sie erzählt von einer Krankheit ohne Chance auf Heilung, die ans Existenzielle rührt. Was ist das Selbst, was bedeutet Würde? In seiner letzten Mail an die Regisseurin schreibt der Vater: „Bitte haltet Kontakt zu mir, versucht zu verstehen und, wo möglich, zu verzeihen“.