Wer Sprachnachrichten verschickt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren

Alles begann mit Gesten und Grunzlauten. Erst vor 100 000 Jahren erreichte der Homo sapiens seine volle Sprachfähigkeit. Und weil er sich auch auf Distanz mitteilen wollte, nutzte er Rauchzeichen und Brieftauben, Post und Telegrafie, später Telefon, E-Mail, SMS und Videocalls. Doch umso digitaler und unkomplizierter der Austausch desto inhaltsloser und unverbindlicher ist er.

Für E-Mails gelten noch die Gepflogenheiten des Briefverkehrs. Die Beantwortung darf dauern. Die Grußformeln bleiben bestehen. Auch die SMS hatte noch einen Anstrich von Höflichkeit. Reaktion erst, wenn es passt. Der blaue Haken der Lesebestätigung bei WhatsApp aber ist Index für den modernen Kommunikationsdruck. Eine Gesellschaft im Dauerchat. Umgehende Antwort, sonst Ärger.

Hoffnung kam auf, als der Messengerdienst die Sprachnachricht einführte, womit man Audioaufnahmen versendet. Zurück zur Unmittelbarkeit der menschlichen Rede! Emotionen statt Emojis! Keine Zeit mit wurstigen Fingern auf kleinen Tasten verschwenden!

Kommunikation findet nur noch um ihrer selbst willen statt

Karl Marx schrieb, dass weltgeschichtliche Ereignisse sich immer zweimal wiederholen. Einmal als Tragödie und einmal als Farce. Die Geschichte der Sprachnachricht aber ist Tragödie und Farce in einem. Mit ihr entsteht ein globales Dorf, in dem sich alle alles in Sekunden mitteilen können, aber niemand mehr etwas zu sagen hat. „The medium is the message“, stellte der Medientheoretiker Marshall McLuhan schon 1964 fest. Kommunikation findet nur noch um ihrer selbst willen statt. Hier kommt die Gesellschaft zu sich selbst: Keine Stimme unterbricht uns, keine unmittelbare Gegenrede kratzt am Narzissmus. Endlich sind wir befreit davon, das Gegenüber mitzudenken. Hier hat Du meinen Gedankenbrei, mach damit, was du willst!

Dabei hatte Kommunikation mal mit Wertschätzung, Aufwand und Konzentration zu tun. Seit der Mensch mit Feder und Pergament im Kerzenschein saß, ringt er um angemessenen Ausdruck seiner Gedanken. Heute aber braucht es weder einen besonderen Ort noch Zeit, nicht einmal einen Gedanken. Das Gerät waagerecht vor den Mund, Mikrosymbol drücken, labern, loslassen – fertig.

„Ja hey, du … ich wollte mich kurz melden … ääähhm … ey, ich bin grad unterwegs … warte mal … krass, hier ist einer ohne Maske in der Bahn … ey, diese Leute … wo war ich stehengeblieben? … sorry, ist megalaut hier … ach vergessen. Ciao!“ Seit dieser Woche kann man seine Aufnahmen vor dem Versenden abspielen. Aber wer will schon seine eigenen vertonten Erregungszustände und Hirnfürze nachhören?

Smartphones haben eine versteckte Funktion: Sie nennt sich „Telefonieren“. Mit ihr ließe sich trainieren, einander zuzuhören und ausreden zu lassen. Bis man es vielleicht irgendwann wieder wagt, in ein Vier-Augen-Gespräch einzutreten. Auch wenn das erstmal nur aus Gesten und Grunzlauten besteht.