Dokumentarfilm über Werner Herzog: Kino verleiht Flügel
Der Skispringer fliegt, wir starren auf seinen geöffneten Mund wie auf einen Fluchtpunkt reinster Ekstase. Ein Pinguin löst sich von seiner Kolonie, wackelt einsam entschlossen einem fernen Gebirgszug und „dem sicheren Tod“ entgegen, wie Werner Herzog kommentiert, ohne bedauernden Tonfall, eher fasziniert. Ausnahmepinguin und Regisseur, gehören einer flugunfähigen Spezies an. Was sie nicht davon abhält, immer wieder Anlauf zu nehmen, sogar abzuheben.
„Öffnen Sie das Fenster, seit ein paar Tagen kann ich fliegen“, rief Werner Herzog Lotte Eisner in ihrem Krankenhausbett zu. Im November 1974 war er zu Fuß von München-Pasing nach Paris zur Sterbenskranken in die Klinik gepilgert, fest davon überzeugt, dass er seine Förderin mit dieser Willens- und Kraftprobe würde retten können. Eisner lebte noch neun Jahre.
Klaus Kinski nimmt ausnahmsweise wenig Raum ein
Die Filmhistorikerin hatte den jungen Filmemacher mit dem Schaffen Murnaus vertraut gemacht. Später gestaltete Herzog seine Version von „Nosferatu“, eine Hommage mit Klaus Kinski als Vampir. Fünf Filme drehte Herzog mit dem für ihn unentbehrlichen, aber auch unberechenbaren, mitunter gemeingefährlichen Darsteller. In Thomas von Steinaeckers Porträtfilm „Radical Dreamer“ darf Herzogs „liebster Feind“ nicht fehlen – ohne groß Raum einzunehmen.
Die alten Kämpfe sind abgearbeitet, Kinski ist lange tot – während Herzog immer weiter macht. Gerade wurde er achtzig, hat seine Autobiografie „Jeder für sich und Gott gegen alle“ veröffentlicht, bis März 2023 würdigt ihn die Kinemathek mit einer Ausstellung. Jetzt noch ein Dokumentarfilm? Gegenfrage: Ist der Kino-Visionär Herzog je auserzählt?
Werner Herzog bewahrt in seinen Filmen eine Reinheit und ist dennoch Teil der Popkultur.
Chloé Zhao
Allein die kurzen Ausschnitte aus sechs Jahrzehnten Filmschaffen sind Schlaglichter auf ein Werk, das sich kaum kategorisieren lässt. Die ohnehin durchlässige Grenze zwischen Spiel- und Dokumentarfilm – beide Formen bediente er aufs Schönste – hat Herzog immer wieder eingerissen. „Aguirre – der Zorn Gottes“, sein erster Film mit Kinski, wirkt streckenweise wie eine Konquistadoren-Doku aus dem 16. Jahrhundert – während Herzog auch da inszeniert, wo es regelwidrig wirkt.
In seinem Dokumentarfilm „Glocken aus der Tiefe“ von 1993 beten russische Mönche durch das Eis des Swetloyar-Sees die angeblich dort versunkene Stadt Kitesz an. Weil er keine Pilger fand, schickte Herzog zwei Betrunkene aufs Eis, die im Film ihren Rausch ausschlafen. „Glocken aus der Tiefe“ ist der Lieblings-Herzog von Joshua Oppenheimer („The Act of Killing“), der neben Volker Schlöndorff, Wim Wenders und Chloé Zhao in „Radical Dreamer“ zu den Talking Heads aus dem Regiefach gehört. „Man hat nicht das Gefühl, dass er uns in die Irre führt“, sagt er über die „Pilger“-Szene, in der absurderweise noch Schlittschuhläufer ihre Kreise ziehen. „Vielmehr zeigt uns Herzog eine Ebene der Realität, die immer da war, die wir nur nicht gesehen haben.“
Herzog selbst bezeichnet sich gegenüber Steinaecker als „guter Soldat des Kinos“. Dass es heute unumgänglich ist, für das Kino zu kämpfen, zeigt der verstolperte Beginn des Filmporträts. Vom Streifschuss, der Herzog während eines TV-Interviews nicht aus der Fassung bringt, über einen von ihm verspeisten Schuh bis zum über den Hügel geschleppten Dampfer aus „Fitzcarraldo“ wirft Steinaecker dem Publikum ein paar Herzog-Anekdotenbrocken hin und lässt Stars wie Christian Bale oder Nicole Kidman diese Schmankerl launig-knapp kommentieren. Ein Kinofilm braucht diese Art Teaser nicht. Wenn „Radical Dreamer“ aber auf anderen Kanälen läuft, drohen die Leute wegzuzappen, wenn man es nicht bei Laune hält.
(In sechs Berliner Kinos, auch OmU)
Solche Konzessionen wider seine Erzähl-Ideale würde Herzog nicht machen. Und hat doch kein Problem damit, in den USA als Kultfigur gefeiert zu werden, dank verschiedener bajuwarisch eingefärbter Sprechrollen bei den „Simpsons“ oder als bedrohlich-leiser Schuft in „The Mandalorian“. Herzogs Kollegin Chloé Zhao findet es „genial, wie es ihm gelingt, in seinen Filmen diese Reinheit zu bewahren und dennoch Teil der Popkultur zu sein.“ Das mag auch eine Frage der Reife sein.
Steinaecker blickt weit zurück in Herzogs Kindheit in der Nachkriegszeit, rekapituliert dessen frühen Jahre als Filmemacher oder widmet sich – natürlich – dem Schicksalsfilm „Fitzcarraldo“. (Herzog: „Gebe ich das Projekt auf, werde ich ein Mann ohne Träume sein. Mein Leben steht und fällt mit diesem Projekt.“)
Schließlich kommt Herzogs Neuanfang in Los Angeles in den 1990ern zur Sprache. Ungewohntes anpacken, immer auf Achse sein, wenig zurückblicken, das bleibt sein Credo. Als ein Filmstudent auf Lanzarote, wo Herzog 1970 „Auch Zwerge haben klein angefangen” drehte, von Herzogs Karriere in der Vergangenheitsform spricht, unterbricht ihn der Altmeister: „Vorsichtig: Meine Ära ist nicht vorbei!“ Er fliegt noch.
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