Graphic Novel „Coming In“: Der Boxkampf um meine Queerness
Bauchkrämpfe, Angstzustände, Ausflüchte – jedes Mal wenn Élodie mit ihrem Freund Sébastien schlafen will, geht es ihr schlecht. Ihr Körper sperrt sich gegen eine Erfahrung, die ihr Kopf seit Langem ersehnt. Élodie will so sein wie ihre Freundinnen und da gehört Sex mit einem Jungen einfach dazu.
Dass der Körper der jungen Frau sich so sehr dagegen wehrt, hat einen Grund, den sie ahnt, aber partout nicht wahrhaben will: Élodie steht nicht auf Männer, sie ist lesbisch.
Als sie beim Fernsehabend mit ihren Großeltern einmal völlig von einer Schauspielerin verzückt ist, verabschiedet sie sich überhastet ins Bett – überwältigt von ihren Gefühlen. „Ich begriff, ohne zu begreifen, dass ich das nicht fühlen ,durfte’, nicht jetzt und auch nicht später. Dass es zu gefährlich war“, schreibt Élodie Font rund zwei Jahrzehnte später in der Graphic Novel „Coming In“, in der sie den langen und schmerzvollen Prozess ihres inneren Coming Outs erzählt, nach dem sie den Band benannt hat.
Denn sich selbst ein- und zuzugestehen homosexuell zu sein, ist auch im Westeuropa des beginnenden 21. Jahrhunderts noch keine einfache Übung. Queere Serien, Stars und Vorbilder sind damals noch eine Seltenheit. In dem kleinen französischen Ort Mayenne, gelegen zwischen Rennes und Le Mans, herrscht die reine Heteronormativität, weshalb sich Élodie auch ein Leben mit Mann und Kindern erträumt.
Es ist berührend zu verfolgen, wie sie in den Jahren nach ihrem Schulabschluss an dieser Vorstellung festhält, es weiter mit Männerbeziehungen probiert, sich sogar von einem Arzt untersuchen lässt. Derweil wird ihr Wunsch, eine Frau zu küssen immer stärker. Den deshalb in ihr tobenden Kampf hat Zeichnerin Carole Maurel („Magdas Apokalypse“) tatsächlich als Boxkampf visualisiert.
Über mehrere Seiten schlagen sich zwei in groben Strichen umrissene Kämpferinnen, eine Rote und eine Blaue, die beide wie Élodie aussehen. Wobei sie sich genau die Sätze um die Ohren hauen, die seit langem im Kopf der 23-Jährigen rotieren. Am Ende siegt die rote Boxerin, die für das lesbische Begehren steht. Sie sagt „Es wird schön und zärtlich. Du wirst endlich glücklich und du selbst sein.“
Sie wird recht behalten, allerdings bleibt Élodies Weg voller Kurven und Hindernisse. Wozu neben ihrer verinnerlichten Homofeindlichkeit auch die Vorurteile der Außenwelt beitragen. Zeichnerin Carole Maurel setzt den Coming-of-Age-Prozess auf dynamische, fesselnde Weise um.
Sie variiert je nach Zeitebene und dargestellter Emotion die Farbintensität, Strichstärke und Panelgröße, mitunter streut sie auch ganzseitige Motive ein. Das hat eine große Lebendigkeit zur Folge – und tatsächlich geht es hier ja auch um eine wahre Lebensgesichte.
Journalistin Élodie Font hat sie 2017 bereits in einem Podcast erzählt, woraufhin sie Hunderte von Nachrichten bekam – sowohl von queeren Menschen, die ähnliches wie sie erlebt haben, als auch von Eltern homosexueller Kinder. Diese Resonanz hat sie dazu bewogen, ihre Geschichte noch einmal als Graphic Novel zu adaptieren.
Damit erreicht sie nun noch mehr Menschen – über ihre französische Heimat hinaus – und leistet einen Beitrag zur Ermutigung all jener, die selbst mit ihrem Begehren ringen. Das bleibt auch im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eine bitter nötige Angelegenheit. Nadine Lange
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