Das Beben
Es gehört zu den fixen Ideen der modernen Welt, Natur für einen „lovely place“ zu halten – einen Ort, den es zu schützen gilt, weil er so schön, erholsam und neuerdings auch irgendwie wichtig fürs Überleben der Gattung ist. Doch die gelegentlich schambehaftete Idee, man hätte die menschlichen Lebensumgebungen im Griff und könne gar eine väterliche Hand über sie halten, ist ein Missverständnis. Zum einen besitzt der Wille zur Naturbewältigung seine Plausibilität, war Menschheitsgeschichte doch lange ein Kampf gegen die Bedrohungen durch Überschwemmungen, Vulkanausbrüche, Unwetter und wilde Tiere. Zum anderen ist dieser Wunsch nach Naturbeherrschung zwar allerorten spürbar, aber durchaus nicht eingelöst. So einfach liegen die Dinge nicht.
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Es sind nicht einmal dunkle Vorzeiten, sondern es ist das Jahr 1976, das Esther Kinsky mit „Rombo“ ins helle Heute holt. Am 6. Mai dieses Jahres erlebte das nordostitalienische Friaul ein Erdbeben der Stärke 10. Im September gab es weitere, teils ebenso starke Nachbeben. Sie vernichteten, was zuvor nur in Teilen zerstört oder bereits wieder aufgebaut war. Fast tausend Menschen kamen ums Leben, vierzigtausend wurden obdachlos, Tiere starben, Wohnhäuser und Kirchen wurden zu Ruinen.
Kinskys Buch ist weniger ein Versuch, die Geschehnisse zu verstehen oder gar zu verarbeiten. Eher geht es darum, ihnen Raum zu geben, einen mit Bildern, Gerüchen und Geräuschen ausgestatteten Raum. Zu den Geräuschen zählt jenes Grollen, das im Italienischen lautmalerisch „rombo“ heißt und ein Beben ankündigt. „Rombo“ ist ein Roman über die verdrängte Prekarität des Lebens, eine Erfahrung, die das Jahr 2022 in so vielfältiger Weise macht.
[Esther Kinsky: Rombo. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 268 Seiten, 24 €]
Kinsky ruft sieben Frauen und Männer aus dem Tal des Wildflusses Tagliamento als Zeugen des Infernos auf, sie stammen aus Gemona und Venzone, zwei Dörfern im Dreiländereck zwischen Italien, Slowenien und Österreich. Sie erzählen von den Anzeichen der Katastrophe, von veränderten Lichtverhältnissen, von den Stimmen der Vögel und dem deutungsbedürften Verhalten der Schlange Carbon. Und immer wieder geht der Blick zum Canin hinauf, einem zweieinhalbtausend Meter hohen Berg, der sich über den Tagliamento erhebt. Sie erzählen vom Beben selbst, dem Versuch, Menschen und Tiere zu retten, der Ankunft der Alpini. Von den Nächten, die sie, nachdem die Häuser eingestürzt waren, im Auto verbracht haben – wer denn ein Auto besaß.
Vor allem erzählen sie von den Versuchen, sich zu erinnern: an das Beben und daran, wie es war, bevor das Beben alles veränderte – bevor das Erzählen selbst die Erinnerung veränderte. Dass sich das Nachdenken übers Erinnern an natürliche Ereignisse knüpft, dass Natur ein „Medium der Erinnerung“ wird, das geschieht selbst in der an Erinnerungstechniken reichen deutschsprachigen Literatur nicht alle Tage.
Natur ist mehr als Natur
Doch diese „Natur“ ist bei Kinsky weit davon entfernt, ein abgezirkelter Bereich jenseits der Menschen zu sein. Sie ist ein biologisch-geologisch-soziales Gelände. Es ist gleichermaßen Verbreitungsgebiet der Schlange Carbon, Terrain einer geologischen „Störung“, auf dem die afrikanische und die eurasische Kontinentalplatte aufeinanderstoßen – und ein Gelände, in dem das Weggehen zu den sozialen Praktiken gehört. Seit langem treibt Not meist Männer zum Arbeiten in den Norden.
Das alles erzählt Kinsky mit. Menschen- und Vogelstimmen, historische Auskünfte zur Geologie der Erdbeben oder Beschreibungen von Fotografien gehören ebenso zu diesem Gelände wie lokale Fabeln, Legenden, Märchen und Sagen. Die Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktion liegt jenseits dieser Form von Literatur. Sie geht längst nicht in Naturbeschreibung auf, sondern erzählt von allem, was lebt: Tiere, Pflanzen, Menschen und, ja, Berge, denn der Kalkstein des Karst „ist ein aus Lebewesen entstandenes Gestein“.
Subtile, kühle Prosa
Ob all die disparaten Textteile ästhetisch notwendig sind und ihre Anordnung immer stringent ist, sei dahingestellt. Fest steht, dass Kinskys so subtile wie kühle Prosa ein eindrückliches Bild des Menschen im Beziehungsgeflecht seiner Umgebungen entstehen lässt. Und vor dem Hintergrund der klimatischen Ereignisse der letzten Jahre macht sie schlagartig klar, dass Menschen keineswegs auf „der sicheren Seite“ stehen – weil es diese Seite nicht gibt.