Späte Auszeichnung für Julie Doucet
Die Kanadierin Julie Doucet ist am Mittwochabend beim Comicfestival Angoulême mit dem Grand Prix für ihr Lebenswerk ausgezeichnet worden. Sie nahm den Preis von US-Comicautor Chris Ware entgegen, der im Vorjahr damit ausgezeichnet worden war.
Doucet ist erst die dritte Frau, der diese Auszeichnung verliehen wurde. Zuvor hatten sich 1820 Comicschaffende an einer Abstimmung beteiligt, um die diesjährige Preisträgerin zu ermitteln.
„Mit Julie Doucet wird eine kompromisslose, radikale und subversive Autorin gewählt“, heißt es in der Laudatio.
Man ehre eine der Pionierinnen des autobiografischen Comics, die in ihrem Werk überaus frei und radikal feministisch vom täglichen Leben, aber auch ihren Träumen und Albträumen erzählt und dabei Themen wie Körperlichkeit, gesellschaftliche Konventionen, Sexualität und Genderfragen verhandelt habe.
Wir veröffentlichen aus diesem Anlass hier erneut ein Porträt von Julie Doucet, das erstmals 2017 im Tagesspiegel publiziert wurde.
Vier kleine quadratische Siebdrucke hängen an der Wand des Arbeitszimmers, darauf eine programmatische Aussage: „Non / je ne / parlerai / pas“. Nein, ich werde nicht sprechen. Ob man das als Motto für ihre derzeitige Schaffensphase verstehen darf? „Deshalb habe ich’s ja aufgehängt“, sagt Julie Doucet und grinst vielsagend.
Ziemlich überraschende Aussage für eine Künstlerin, die viele Jahre lang extrem mitteilungsfreudig war. Die in ihren Comics schonungslos von sich selbst erzählte, von Alltagsängsten, kaputten Beziehungen, Drogenerfahrungen, Albträumen und außer Kontrolle geratenen Körperflüssigkeiten. Und das oft auf sehr komische Weise in ungemein dichten, düsteren und zugleich sehr witzigen Bildern von obsessiver Detailverliebtheit.
Vor 16 Jahren veröffentlichte Julie Doucet mit dem Comic-Tagebuch „365 Days“ ihre bislang letzte längere Erzählung in jenem für sie typischen Comic-Stil: mit leicht karikierend überzeichneten Figuren, deren Köpfe und Augen und Münder immer etwas zu groß wirken und die in Panels agieren, die bis in die letzte Ecke vollgezeichnet sind. Danach war erst mal Schluss.
Sex, Suizidversuche und Selbstverletzungen
„Ich hatte die Nase voll“, sagt sie beim Gespräch in ihrem Atelier, das sie im ersten Zimmer ihres eingeschossigen Häuschens im Viertel Petit Patrie im Norden Montréals eingerichtet hat. Fast 20 Jahre lang hat die 1965 geborene Kanadierin in ihren Arbeiten ihr Innerstes nach außen gekehrt, und das manchmal im Wortsinne, wie in jenem frühen Strip aus ihrer anfangs selbst verlegten Heftreihe „Dirty Plotte“, in dem ihr gezeichnetes Alter Ego sich den Bauch aufschneidet, bis die Organe herausquellen.
Der englisch-französische Titel ihres Magazins, das 2018 bei Drawn & Quarterly als 600-seitige Gesamtausgabe neu veröffentlicht wurde und von dem der Berliner Reprodukt-Verlag kürzlich eine Auswahl unter dem Titel „Julie Doucets allerschönste Comics Strips“ (Übersetzung Jutta Harms und Cornelia Röser, Handlettering Julie Doucet, Olav Korth und Dirk Rehm, 176 Seiten, 29 Euro) auf Deutsch herausgebracht hat, war Programm: „Plotte“ ist im französischen Québec-Slang ein wenig schmeichelhafter Begriff für Vagina.
Und gerade in den ersten Ausgaben, die Julie Doucet ab 1988 noch als Kunsthochschulstudentin in zweistelliger Auflage selbst verlegte und die eigentlich nur für einen kleinen Leserkreis gedacht waren, ging’s schonungslos zur Sache: Sie erzählte von Sex, Suizidversuchen und Selbstverletzungen, wobei die Grenzen zwischen Realität und absurder Fantasie fließend waren.
Immer wieder geht es in den Episoden, durch die sich ein latentes Gefühl der Entfremdung zieht, auch um das karge Künstlerleben der Ich-Erzählerin, lange Gespräche mit Freunden und Beziehungen zu Männern, die mal als selbstmitleidige Loser, mal als aggressive Sex-Monster und oft als beides zugleich erscheinen.
Dass Doucets Figuren und vor allem ihr gezeichnetes Selbstbild auf den ersten Blick so fröhlich-cartoonartig aussehen, verstärkt den Effekt, denn es macht die Lektüre der vielen düsteren Erlebnisse und Gedanken umso verstörender – und verschafft in anderen Szenen auch manch erleichternden Moment, der den Leser laut auflachen lässt.
„Kein menschlicher Vorgang ist vor ihr sicher“
Damals war diese Form der Selbstoffenbarung einer Zeichnerin in der von Männern geprägten Comicszene revolutionär: Mit Ausnahme der Bilderzählungen von Underground-Pionier Robert Crumb und Art Spiegelmans „Raw“-Magazin dominierten Ende der 80er Jahre kommerzielle Zeitungsstrips und Superhelden-Hefte den nordamerikanischen Markt.
Solche tabulosen, zutiefst persönlichen und zugleich derb komischen Geschichten wie die von Julie Doucet hatte man im Comic bis dahin kaum gesehen, und schon gar nicht aus der Perspektive einer Frau erzählt. Ab 1990 erschien „Dirty Plotte“ im frisch gegründeten Montréaler Verlag Drawn & Quarterly, der nicht zuletzt wegen Doucets Werk heute als eine Institution des nordamerikanischen Autorencomics gilt.
„Ohne Julie Doucet würden viele von uns heute keine Comics zeichnen“, heißt es auf der Website des Leipziger Comicfestivals The Millionaires Club, das Julie Doucet in diesem Jahr als Ehrengast eingeladen hatte, aber wegen der Coronavirus-Krise weitgehend ausfallen musste. „Ihr Werk war und ist enorm einflussreich.“
„Es war eine Riesenerleichterung, diese Comics in einer Welt zu lesen, die vom Zwang zur Uniformität geprägt ist“, schrieb die US-Autorin Deb Olin Unferth 2015 im Jubiläumsband zum 25. Jahrestag von Drawn & Quarterly über Doucet. Zumal bei der Zeichnerin Themen wie Gewalt und Körperlichkeit nie als Selbstzweck behandelt werden, sondern als Stoff für eine große Komödie, die die außer Kontrolle geratenen Aspekte des Menschseins und des Frauseins untersuche: „Kein menschlicher Vorgang ist vor ihr sicher.“
Bis vor 13 Jahren. Da hatte Julie Doucet einen Burn-out, erzählt sie beim Gespräch in Montréal, zu dem sie vor gut zwei Jahren den Tagesspiegel-Reporter empfangen hatte. „Kunst hatte keine Bedeutung mehr für mich.“ Ihre Zeichnungen schienen ihr angesichts der Bilderflut der modernen Welt plötzlich irrelevant. Und fürs Geschichtenerzählen war die Inspiration versiegt. Einige unerfreuliche persönliche Erfahrungen trugen ihren Teil dazu bei. Eine der wichtigsten Stimmen des nordamerikanischen Independent-Comics verstummte.
Doch dann kam „Der Stein“. Ein Siebdruck-Magazin, dessen neun Ausgaben Julie Doucet jetzt aus einer Schublade ihres Ateliers holt. Auf dem Cover des ersten Magazins ist das Foto eines faustgroßen Steins abgebildet – Symbol für die radikale Abkehr von ihrer vorherigen Kunst.
Denn in dem Magazin finden sich weder Zeichnungen noch autobiografische Geschichten. Dafür viele Worte, in gelegentlich holprigem Deutsch und in einer Schreibmaschinenschrift, die an Pamphlete radikaler Politgruppen der 70er Jahre denken lässt. „der stein zerquetscht kunst“, heißt es an einer Stelle. „kunst ist dumm kunst ist eine leere hose“ an einer anderen, oder: „künstler sind konformist!“
Dass diese Abrechnung auf Deutsch stattfand, hat einen praktischen Grund. Von 1995 bis 1998 lebte Julie Doucet in Berlin. Die Zeit hat sie zwar wegen diverser unschöner Erlebnisse – Beziehungsprobleme, Ärger mit der Wohnung – nicht gerade in positiver Erinnerung.
Aber den Wunsch, Deutsch zu lernen, nahm sie mit nach Montréal, wo sie einen Deutschkurs begann. „Der Stein“, dessen letzte Ausgabe 2012 erschien, war quasi ihr Übungsheft. Zudem sei es einfacher, mit Worten in einer anderen Sprache als der eigenen zu spielen, sagt Doucet. „Das ist wie ein Puzzle – und man ist weniger befangen.“
Für ein Buch erfand Julie Doucet 700 neue Worte
Der nächste Schritt ist naheliegend: die Schöpfung einer eigenen Sprache. Für die autobiografische Arbeit „J comme Je“ über ihre Kindheit schnitt Doucet alle Worte aus Zeitschriften aus und erfand zudem rund 700 Worte, die französisch klingen, aber Eigenkreationen sind, 2012 veröffentlichte sie ein 60-seitiges Wörterbuch dazu: „Autrinisme de Règlohnette“.
Das erinnert an Sprachkünstler wie den experimentellen Lyriker Ernst Jandl oder Dada-Poet Kurt Schwitters, die eigene Worte erfanden, um in ihren Gedichten vermeintlich Unsagbares sagen zu können. Es reflektiert aber vor allem Doucets Nachdenken über die menschliche Kommunikation, das immer schon eines der zentralen Themen ihrer Comics war – von der Schwierigkeit, sich in Beziehungen zu verständigen, bis hin zu den handfesten Herausforderungen des mehrsprachigen kanadischen Alltags.
Obwohl ihre Muttersprache Französisch ist, mischte Doucet in ihren Bilderzählungen stets französische und englische Worte miteinander, wie es gerade in Montréal dank seiner von Franzosen und Engländern auf unterschiedliche Weise geprägten Historie üblich ist. Hier wechselt man ständig die Sprache, je nachdem, mit wem man in welchem Kontext kommuniziert – oft zum Ärger von Doucets gezeichnetem Alter Ego, das die Beschränkungen der englischen Sprache beklagt und darunter leidet, sie nicht so gut zu beherrschen wie die eigene Muttersprache.
Gelegentlich verzichtet ihr Comic-Ich komplett auf verständliche Worte und hat nur noch ein wildes Buchstaben-Potpourri in der Sprechblase. Der vorläufige Höhepunkt in ihrer kritischen Dekonstruktion der Sprache ist Doucets jüngstes Buch, das 2016 in Nordamerika erschienen ist – und das eine vorsichtige Rückkehr zur Kunstform Comic andeutet. „Carpet Sweeper Tales“ versammelt rund 20 sequenzielle Arbeiten, die aus alten Schwarz-Weiß-Fotos, Sprechblasen und Buchstaben bestehen.
Die Fotos, die größtenteils aus 50er-Jahre-Zeitschriften stammen, zeigen Frauen und Männer in unterschiedlichen, oft aggressiv aufgeladenen Beziehungskonstellationen. Die Texte dazu, die Doucet aus alten Zeitschriften ausgeschnitten hat, sind größtenteils eine Aneinanderreihung von Begriffen aus der Werbesprache, Klischees und abstrakten Lautmalereien.
So steht in der Sprechblase eines Mannes, der einer Frau im Restaurant tief in die Augen schaut und dabei ihre Hand ergreift: „Pudding, me will Karpet-Kare of you.“ Und sie erwidert: „Ford you Sweepmaster!“ Und in den Sprechblasen der Mitglieder zweier aggressiver Männergruppen, die erst eine Frau bedrängen und dann einen Mann zusammenschlagen, stehen Dinge wie „gggggirls!“, „dddd!!“, „BBBBBBBBBBBBBABBBBBBBBABY!“ und „wwww!!“.
„Wir brauchen Schönheit“
„Die Bilder habe ich aus diesen Zeitschriften“, sagt Julie Doucet und zeigt auf einen Stapel vergilbten Papiers in der Ecke ihres Ateliers. Sie tragen Titel wie „Sentimental“ und „Rêver“ (Träumen), und enthalten in Schwarz-Weiß fotografierte Liebesgeschichten – frühe Fotolovestorys, wie man sie in Deutschland aus der „Bravo“ kennt. „Die sind so kitschig“, sagt Doucet lachend und blättert durch eines der Hefte, die sie größtenteils auf Flohmärkten findet.
Für ihre eigene Version dieser Bildgeschichten schneidet sie einzelne Szenen aus, gruppiert sie neu und schafft dadurch in Verbindung mit ihren Wortkreationen ein ganz neues Narrativ. Dabei geht es auf verstörend-unterhaltsame Weise um jene Themen, die bereits in ihren Comics eine zentrale Rolle spielten: Kommunikationsstörungen zwischen Männern und Frauen, die Oberflächlichkeit der modernen Gesellschaft, männliche Aggressivität und Sexualität, weibliche Selbstbehauptung und Flucht aus der männlich dominierten Welt. „Das war keine bewusste Entscheidung“, sagt Julie Doucet, „die Bilder verführen einfach dazu.“
Und dann holt sie aus einer Schublade ihres Ateliers ein Heft, das für einen weiteren Einschnitt ihrer künstlerischen Entwicklung steht: eine Sammlung gezeichneter Porträts im Notizbuchformat, daneben der Titel auf Englisch und Französisch: „Freihandzeichnungen mit Deckweiß“.
Erstes Ergebnis einer vorsichtigen Wiederannäherung Julie Doucets an die Welt der gezeichneten Bilder. Das habe mit dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ zu tun, sagt sie. Das Massaker islamistischer Terroristen in der Redaktion der französischen Satirezeitschrift im Januar 2015 habe sie so mitgenommen, dass sie erstmals wieder zum Stift gegriffen habe.
„Aber nicht, um das Trauma zu zeichnen, sondern um schöne Dinge zu zeichnen.“ Dann blättert sie durch das in Heftform reproduzierte Notizbuch, in dem Dutzende Schwarz-Weiß-Porträts von Männern und Frauen zu sehen sind, gezeichnet mit schwarzer Tinte, viel Weißfläche und schraffierten Schattierungen, die an Holzschnitte erinnern.
Es sind würdevolle Bilder von Menschen aus aller Welt, die sie zufällig in Zeitschriften gefunden hat, vor allem in alten Ausgaben von „National Geographic“, die sich hinter ihrem Schreibtisch stapeln. „Wir brauchen Schönheit“, sagt sie, „das ist das nächste große Ding.“
Und so greift Julie Doucet nun doch wieder regelmäßig zum Stift und bringt Bilder zu Papier – „aber nichts Autobiografisches mehr!“, wie sie betont. „Während es früher nur um mich, mich, mich ging, hole ich jetzt die Welt um mich herum in meine Arbeiten“, sagt sie. Ihr Verlag habe bereits Interesse signalisiert, die Porträts in einem Buch zu veröffentlichen.
Parallel dazu arbeitet sie weiter an Fotocollagen, in denen sie Fotos von sich und anderen Frauen verarbeitet. „Poirette“ heißt ihr jüngstes Projekt, bislang hat sie drei Ausgaben ihres „minimalistischen feministischen Fanzines“, wie sie es nennt, im Selbstverlag veröffentlicht. Diese Arbeiten, die sich mit unterschiedlichen Bildern von Weiblichkeit beschäftigen und viel Raum für Interpretationen bieten, lassen sich auf ihrer Website bestellen (juliedoucet.net).
Aber fehlen ihr die Comics, die für sie viele Jahre lang eine Art öffentliches Tagebuch waren, nicht als Ventil für ihre Erlebnisse und Gefühle? „Nein“, sagt Julie Doucet entschlossen. „Das war damals sehr zwanghaft, davon habe ich mich befreit.“
Es sei zwar oft auch ein großer Spaß gewesen, aber sie wolle das heute nicht mehr. Vor einiger Zeit habe sie noch mal versucht, ein Tagebuch zu führen, wie es früher die Grundlage ihrer Comics war. „Nach zwei Tagen habe ich wieder aufgehört.“
Redaktioneller Hinweis: Dieser Artikel erschien 2017 erstmals im Tagesspiegel und wurde jetzt aus aktuellem Anlass überarbeitet.