Wenn „Dancemaster“ dein Leben bestimmt: DIE neue Erfolgskünstlerin der digitalen Kunst macht Station in Berlin
Wegweisende Medienkünstler haben nicht selten koreanische Wurzeln. Der bekannteste ist wohl Videokunstpionier Nam June Paik. Es sieht ganz so aus, als würde die 1979 geborene Künstlerin Ayoung Kim diese Tradition fortsetzen. Soeben wurde sie mit dem LG Guggenheim Award ausgezeichnet.
100.000 US-Dollar Preisgeld gibt es als Anerkennung für ihre „Führungsrolle bei der Verbindung von Kunst und Technologie“. Zuvor erhielt sie den ACC Future Prize 2024, mit dem eine Ausstellung in einer gigantischen Halle im Asian Culture Center im südkoreanischen Gwangju verbunden war.
Ganz so viel Platz konnte man ihren spekulativen Sci-Fi-Erzählungen im historischen Gebäude des Hamburger Bahnhofs nicht einräumen. Aber dass das Museum für Gegenwart die Medienkunst der Koreanerin jetzt nach Berlin geholt hat, bevor sie ihren Weg durch die großen Institutionen der Welt antritt, ist schon extrem gutes Timing. Es ist ihre erste Einzelausstellung in einem deutschen Museum.
Schneller zum nächste Auftrag
Grenzenlos ist nicht nur der physische Raum, den diese Künstlerin mit top-modernen LED-Screens ausfüllen kann, sondern auch das Lebensgefühl der Sci-Fi-Welten, die Ayoung Kim sich ausdenkt. In variierenden Konstellationen von computergenerierten Filmen, Game-Umgebungen, Skulpturen und Bildern entwickelt sie ihre Erzählungen von Ausstellung zu Ausstellung weiter.
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© Courtesy Ayoung Kim & Gallery Hyundai / Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin, Foto: Jacopo LaForgia VG Bild-Kunst, Bonn 2025
In ihrem Werkzyklus „Delivery Dancer“, den sie 2022 begonnen hat, geht es um Lieferdienstfahrerinnen, die in Megacitys wie Seoul Kurierfahrten erledigen, totalüberwacht und gesteuert von einer App, die Bestellungen verwaltet und optimale Routen berechnet. Die strenge KI, die alles managt, nennt sich „Dancemaster“. Sie ist auf Produktivitätssteigerung programmiert. Die großen Player der sogenannten Gig Economy mit ihren ausbeuterischen Beschäftigungsverhältnissen, allen voran Uber, standen Pate. Ständig heißt es: schneller fahren, der nächste Auftrag wartet, beeile dich!
Und was, wenn alles möglich wäre?
Allerdings verläuft die Zeit in dieser Welt zyklisch. Im „Delivery-Dancers“-Universum existiert eine unendliche Zahl möglicher Welten. Die Künstlerin breitet den aus Philosophie, Literatur und Film bekannten Topos der alternativen Welten auf ihre Weise aus.
Die Protagonistin Ernst Mo trifft immer wieder auf ihre Doppelgängerin En Storm, scheinbar sind sie dieselbe Person. Es ist wie im Quantenuniversum, wo ein Teilchen im verschränkten Zustand an zwei Orten gleichzeitig sein kann. Die beiden rasen mit ihren Motorrädern durch ein zertrümmertes Seoul, um Lieferaufträge abzuarbeiten. Manchmal prallen sie regelrecht aufeinander, balgen sich auf dem Boden, oder sie verschmelzen, freundschaftlich, zart, erotisch bisweilen.

© Snakepool / Kanghyuk Lee
Die Besucher können die Geschichte in einer Simulation selbst weiterspielen. Aber auch wenn man keinen Platz am Spieltisch ergattert, wird man als Besucher Teil des Delivery-Universums, das ist auch körperlich spürbar. Kim erzeugt diese Erfahrung mithilfe der Szenografie. Die Videos und Skulpturen sind in eine blaue Regalkonstruktion eingebettet, die sich durch alle Räume zieht.
Durch zahlreiche geschickt integrierte Spiegel sind digitale Bewegtbilder, Spiegelbilder und Realität oft nicht auseinanderzuhalten. Man trifft immer wieder überrascht auf sich selbst. Beim Wandern durch die Räume vermag man nicht sofort zu erkennen, wo die eigenen Beine sind, wo sie sich nur spiegeln oder wo man auf die jeansbehosten Gliedmaßen anderer Gäste blickt.
Das Überlappen von analoger und digitaler Welt visualisiert Ayoung Kim auch dadurch, dass die Hauptdarstellerinnen manchmal wie Comiccharaktere und manchmal wie echte Schauspieler aussehen, die Zustände gehen fließend ineinander über.
Für den besten Effekt sorgen die Spiegel
Die Künstlerin hat vor gut 20 Jahren als Bewegtbild-Designerin in Internetagenturen angefangen, in Großbritannien studierte sie anschließend Fotografie und bildende Kunst. Inzwischen hat sie einen Softwareexperten als technischen Direktor an ihrer Seite, das Produktionsteam umfasst vermutlich einen Stab wie bei einer Werbefilmproduktion.

© Ayoung Kim, Gallery Hyundai
Mensch und Technik sind verschmolzen in Ayoung Kims Universen. So ist es ja auch in der Realität, selbst wenn wir das oft noch in der Zukunft verorten. In den vernetzten Metropolen Asiens ist man diesem Lebensgefühl bereits näher als in Europa. In den Videoarbeiten der jüngsten Künstlergeneration ist der hypertechnologisierte Alltag bereits die Grundeinstellung.
Ayoung Kim gehört als früher Digital Native zu den Pionierinnen einer Worldbuilding-Installationskunst, ähnlich wie Lawrence Lek, der 2023 in einem leerstehenden Kaufhaus am Berliner Kranzler Eck eine Geschichte über KI-gesteuerte autonome Autos über mehrere Stockwerke hinweg ausbreitete.
Die handelnden Charaktere in diesen Spekulationen erinnern sich oft noch an eine alte, analoge Welt, an Individualität, an unproduktive Freizeit und im Fall der Kurierfahrerin Ernst Mo an unterschiedliche Zeitkonzepte und Kalender, in denen man sich zum Beispiel am „Tag des schwarzen Hasen“ orientiert und nicht an der Stechuhr der KI.
Teil der verwendeten Grammatik ist es, die Dominanz der westlichen Moderne infrage zu stellen. Ernst Mo and ihr baugleiche Version En Storm leben in einer entgrenzten Welt und sind doch komplett unfrei. Andererseits sind sie frei genug, sich alles vorzustellen, und was man sich vorstellen kann, bildet die Realität, auch wenn es physisch gar nicht existiert.
Dieses Lebensgefühl zieht viele Besucher an, am Sonntag bildete sich eine Schlange vor dem Eingang des Hamburger Bahnhofs, manche mussten eine Weile warten, bevor sie die Ausstellung im ersten Stock des Westflügels sehen konnten. Ayoung Kim trifft einen Nerv mit ihrer erzählerischen Hightech-Kunst. Sie spricht über das Leben von heute, auch wenn es aussieht wie das von morgen.