Sehnsucht nach Kurdistan

Serpil Turhans Dokumentarfilm „Köy“ eröffnet mit einer Totalen auf ein kurdisches Bergdorf. Es besteht aus wenigen Häusern, im Hintergrund erstrecken sich die grünen Hügel Nordkurdistans. Nach einem Schnitt befinden wir uns in einem Berliner Wohnzimmer: Wieder ist das kurdische Dorf zu sehen, diesmal aus einer anderen Perspektive. Es handelt sich um ein Foto, das Gülşah Özbey, genannt Neno, jeden Tag an ihre Heimat erinnert. Neno ist dort geboren worden, ihr Mann liegt dort begraben. Sie plant, ihm irgendwann zu folgen. „Wir wussten, dass unsere Enkelkinder am Ende hier geboren werden“, erzählt sie. Trotzdem betrachtet die alte Frau Kurdistan als Heimat.

Das Verhältnis von der Dokumentaraufnahme Kurdistans und dem Foto in einem Berliner Wohnzimmer – einem konkreten Ort und einer abstrakten Erinnerung – beschreibt anschaulich das Gefühl, dem die Filmemacherin und Schauspielerin Serpil Turhan auf den Grund zu gehen versucht. Sie kann nicht verstehen, warum es ihre Großmutter und ihre Bekannte Zûrê an den Geburtsort zurückzieht. Die Situation in der Türkei sei für Kurden, erst recht für Frauen, gefährlich, erinnert sie Zûrê. Die Filmemacherin würde ihren Pass am liebsten vernichten, erzählt sie im Gespräch. Aber auch sie, geboren 1979 in Berlin, beschäftigt die Frage, warum diese Verbindung zur Heimat der Eltern sie nicht loslässt.

„Köy“ ist nicht der erste Film Turhans über ihr Verhältnis zu Kurdistan – und über ihre Großmutter Neno, das Familienoberhaupt, Mutter von elf Kindern. In ihrem Langfilmdebüt „Dilim Dönmüyor – Meine Zunge dreht sich nicht“ von 2013 versuchte sie das Sprachgewirr zwischen Kurmandschi, der Muttersprache der Eltern, Türkisch und Deutsch zu entwirren, um der eigenen Identität auf die Spur zu kommen. Mit „Köy“ weitet sie nun ihre Recherchen aus.

Neno war schon in „Meine Zunge dreht sich nicht“ eine Protagonistin (der Großvater starb kurz nach den Dreharbeiten). Hinzugekommen ist jetzt zum einen Zûrê, in deren Pass der türkische Name Saniye steht. Sie betreibt ein Café in Schöneberg und bricht am Ende von „Köy“ für längere Zeit nach Kurdistan auf. „Ich möchte einmal alle Jahreszeiten in meinem Dorf erleben“, erzählt sie Turhan.

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Wenn Neno die Vergangenheit ist, und Zûrê die Gegenwart, verkörpert die 1996 in Berlin geborene Hêvîn in „Köy“ so etwas wie die Zukunft. Für sie bedeutet das titelgebende Köy zweierlei: den Kiez ums Kottbusser Tor in Kreuzberg, auf das sie von ihrer Wohnung aus blickt. „Am Kotti bin ich zuhause“, verrät sie Turhan. Und das Kurdistan, für das sie schon als 17-Jährige politisch aktiv war.

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Nun plant Hêvîn, in die Türkei zu fliegen, als Wahlbeobachterin. Die Mutter warnt die Tochter vor der gefährlichen Reise. Doch Hêvîn plagt ein anderer Zwiespalt: Sie will Schauspielerin werden, die UdK hat sie bereits angenommen. Wie soll sie nun ihre Zukunftspläne und ihren Aktivismus für ein Land, das sie nur von Besuchen kennt, unter einen Hut kriegen?

(In den Berliner Kinos fsk, Klick, Wolf)

Dieses Herantasten, das stetige Hinterfragen entspricht auch der Arbeitsweise Serpil Turhans. Ihre Neugier, das behutsame Nachbohren erzeugen eine Vertrautheit, die Welten öffnet. Zûrês Café dient in ihrem Schöneberger Kiez als Anlaufstelle, Nenos Wohnung, in der sie nach dem Tod des Mannes allein lebt, ist voller Erinnerungen – und doch ein Ort des Übergangs. Diese Gefühl der Flüchtigkeit vermitteln auch die Gespräche. „Die Sehnsucht wird immer bleiben“, sagt Hêvîns Mutter, von der die Tochter ihre politische Haltung geerbt hat. Turhan teilt diese Sehnsucht nicht, aber sie beschäftigt die Filmemacherin genug, um nun schon ihren zweiten Film darüber gedreht zu haben.

Ihre Eltern hätten ihr Leben lang nur Krieg gegen Kurden erlebt, sagt Hêvîn. Sie wolle nicht mit einem Krieg sterben. Beim Vorsprechen singt sie ein kurdisches Traditional – „Unsere Berge“. Es verbindet im Film die Geschichten der drei Frauen aus drei Generationen, die sich vor der Kamera nie begegnen. Das Lied füllt eine „Leerstelle“ aus. Die Mutter der Regisseurin hat am Ende noch eine andere Definition von Heimat. „Erde ist Erde“, sagt sie lakonisch zu Neno.