Wow & Flutter Forever: Die Kompaktkassette wird 60
Eine Binsenweisheit der Medienwissenschaften lautet: Medien kommen nie als Lösungen in eine Gesellschaft, sondern als neue Probleme. Mit der Sprache kam die Lüge, mit der Schrift wurden Territorialansprüche amtlich und noch Immanuel Kant warnte vor Menschen, die Bücher lasen. Wer mit so jemandem diskutierte, riet er, solle sich unbedingt einen zweiten Belesenen zur Seite holen, als Verstärkung, denn: Wissen war Macht.
Die Kompaktkassette könnte eine Ausnahme zu alledem sein. Als sie vor genau 60 Jahren, am 28. August 1963, auf der Funkausstellung in Berlin vorgestellt wurde, samt zugehörigem Rekorder, war einigen der Anwesenden wahrscheinlich schon bewusst, dass sie vieles bewegen könnte, denn sie löste auf Anhieb gleich mehrere Probleme alter Plattentechnik (ohne offensichtliche neue zu schaffen): Sie war günstig herzustellen, mobil und konnte ohne großen Aufwand selbst bespielt werden.
Im Sturm eroberte sie folglich die Welt, und die Erfolgsgeschichte riss nicht ab: Als Geräte zum Überspielen erschwinglich wurden, entstand das Mixtape: Die persönliche Playlist für besondere Anlässe, besondere Menschen oder als Soundtrack zu den Sommerferien – das Zusammenstellen von Songs wurde Ausdruck von Geschmack, Musikalität und Zugehörigkeit. Der Walkman schrumpfte 1979 Bühnen auf Hosentaschenformat, blieb bis in die Neunziger Teenie-Traum und Lifestyle-Insignium.
Mobile Kopfhörer ermöglichten es der Generation der New Romantics, der Welt die kalte Schulter zu zeigen: Mit ihnen auf den Ohren, war man nicht mehr im schnöden Hier und Jetzt gefangen, sondern entgrenzte seinen Standort. Wohin die Reise ging, wusste nur man selbst. Klar, dass das der Stasi kein willkommener Anblick war, die schnell begriff, dass die Kassette zur illegalen Verbreitung von Westmusik beitrug. Teils unter Beobachtung stehende Fanclubs von Westbands – allen voran Depeche Mode – tauschten untereinander illegal kopierte Lieder und Konzertmitschnitte.
Genaugenommen schuf die Kassette also doch auch Probleme – für den MfS, sowie die Musikindustrie, die sich über das Kopieren von Alben natürlich auch nicht freute. Abgelöst wurde die MC von der vermeintlich überlegenen, digitalen CD, die die Musik zunächst wieder ein Stück weit entdemokratisierte. Ironie, dass heute hochauflösend aufgezeichnete Musik durch spezielles analoges Studiogerät geschickt wird, um ein wenig der wohligen Bandsättigung in die sterilen Aufnahmen zurückzuholen und künstlich sogenannte Gleichlaufschwankungen zu simulieren – auf Englisch ungleich poetischer klingend: Wow & Flutter.
Gemeint sind mit letzterem Schwankungen der Bandgeschwindigkeit bei Aufnahme und Wiedergabe, die zu einem sonderbar wabernden Zeiterleben, nicht unähnlich mancher Hochsee-Erfahrung führen. Aber darum geht es doch auch in der Musik: Den eigenen Zeitstrom ein wenig verlassen, den Bandsalat mit zittrigen Fingern wieder entwirren, alles wieder einzuspulen (vorzugsweise mit einem Sechskant-Bleistift) und erneut „Play“ zu drücken, gespannt, ob es klappt. Ich sag es ja, auch die Kassette kam mit Problemen. Aber der USB-Stick, der die nachempfindet, verdient einen Preis.