Roman „Geschichte eines Kindes“: Fremde im eigenen Land
Der Zufall führt die Ich-Erzählerin zu dieser „Geschichte eines Kindes“ – und wohl auch die Schriftstellerin Anna Kim zu ihrem inzwischen dritten Roman, in dem sie viel dokumentarisches Material und nicht zuletzt Autofiktives verarbeitet hat.
Im Januar 2013, so hebt Kims Buch an, reist die aus Österreich stammende Ich-Erzählerin, die den Vornamen Franziska trägt, in den Mittleren Westen der USA nach Green Bay, Wisconsin, sie hat hier ein Stipendium bekommen und will an einem Roman arbeiten. Franziska bezieht ein Zimmer bei einer älteren Dame, Joan Truttman, die ihr nach und nach ein bisschen näher kommt und eines Tages fragt, ob es nicht „schwierig“, gar eine einsame Angelegenheit sei, hier in Green Bay, aber eben auch in Österreich „weit und breit die einzige Asiatin zu sein“.
Vater Österreicher, Mutter Südkoreanerin
Davon will Franziska nichts wissen, sie sei in Wien geboren, antwortet sie, sie fühle sich mit einem österreichischen Vater und einer südkoreanischen Mutter in etwa so asiatisch wie ihre amerikanische Vermieterin. Diese erzählt der Schriftstellerin dann die Geschichte ihres Mannes Danny, „des einzigen Afroamerikaners in Green Bay, zumindest fühle sich das so an“, und das von der allerfrühesten Kindheit an.
Daniel, wie der Name des Säuglings lautet, wird kurz nach Mitternacht am 13. Juli 1953 geboren. Er wiegt bei der Geburt 3,2 Kilogramm und wird von seiner Mutter sofort zur Adoption freigegeben. Das ist das Erste, was man von Daniel erfährt, und in diesem kursorisch-dokumentarischen Duktus geht die Geschichte nach dem erzählenden Intro weiter. Denn Anna Kim verwendet für die Schilderung von Dannys frühen Kindheitsjahren ausschließlich die Einträge aus den Akten des Sozialdienstes der Erzdiözese Green Bay; im Buch sind diese auch in einem anderen Schrifttyp gehalten. In einem trockenen, bürokratischen Tonfall geht es darum, wie der Kleine sich entwickelt, wo er später einmal hin soll und wie sich die Suche nach dem leiblichen Vater gestaltet, nämlich schwierig. Der kleine Daniel sieht anders aus, als man es in der komplett weißen Umgebung Green Bays gewohnt ist.
Die Schwestern der Entbindungsstation sind überzeugt davon, „dass seine Körpermerkmale eher denen eines Negers entsprechen als denen eines Indianers“, wie Anna Kim einen Eintrag vom 3. 8. 1953 zitiert: „Das Kind, betonte Schwester Aurelia, weise „Merkmale auf, die nicht normal seien“.“ Als das abschließend geklärt ist, nach immer wieder sehr genauen Beschreibungen der Physiognomie des Jungen, macht sich die Sozialstation auf die Suche nach dem leiblichen Vater, aber erfolglos, und schließlich, erfolgreicher, auf die nach Pflege- und Adoptiveltern für Danny.
Exemplarisch stehen die Einträge der Sozialstation für den Rassismus in den USA in den fünfziger Jahren, dabei hat auch der Rassenwahn der Nationalsozialisten Eingang in Sprachgebrauch und Denkweisen gefunden. Um den Fall von Daniel kümmert sich auffallend obsessiv die Sozialarbeiterin Marlene Winkler. Sie stammt ebenfalls aus Österreich, was zunächst keine größere Rolle zu spielen scheint, aber Anna Kims Roman schlussendlich einen neuen Move gibt. Denn die Geschichte eines Kindes wandelt sich zu einer von zwei Kindern, nämlich zusätzlich der Geschichte der Erzählerin.
Ihre Vermieterin schildert ihr Dannys weiteres Leben, was er für ein Glück mit seinen Adoptiveltern hatte, wie schwer es aber als Erwachsener für ihn war, sich zurechtzufinden. Und spricht Franziska dann wieder und wieder auf deren Herkunft an, wogegen diese sich zu wehren versucht: „Ich habe nie verstanden, warum die Herkunft meiner Mutter schwerer wiegen soll als die meines Vaters.“
Ein Geheimnis wird gelüftet
Joan Truttman bittet Franziska schließlich, die Sozialarbeiterin von damals ausfindig zu machen, diese sei doch Österreicherin und der Schlüssel zum nie gelüfteten Geheimnis, wer der leibliche Vater ihres Mannes ist. Franziska kehrt zurück nach Wien, ohne sich weiter um die Akte von Danny zu kümmern oder Nachforschungen über Marlene Winkler anzustellen – bis es wieder der Zufall ist, der ihr Winklers letzte bekannte, in der Akte notierte Wiener Adresse ins Auge springen lässt: Sie liegt in ihrem Heimatbezirk, in Hietzing.
Von nun an ist die „Geschichte eines Kindes“ auch die von Franziska. Sie erinnert sich ihrer Kindheit und Jugend, an das komplizierte Verhältnis zu ihrer Mutter Ha, die von ihr oft bekämpft und mutmaßlich aus dem Land getrieben wurde: „Ich kritisierte ihre Aussprache, verspottete ihren, wie ich nicht müde wurde zu betonen, unbeholfenen Akzent. Ich gab vor, sie nicht zu verstehen, zwang sie, jeden Satz mehrere Male zu wiederholen. (…) Ha war ausgesprochen zurückhaltend, zu schüchtern, um sich zu behaupten.“ Auch Marlene Winkler ist sie jetzt auf der Spur. Sie lernt deren Tochter kennen, eine Malerin, und erfährt, dass Winkler im Wien der Nazizeit Anthropologie studiert und Kopf- und Körpervermessungen durchgeführt hat.
Es wirkt bei der Lektüre bisweilen, als würde Anna Kim bei ihrer Geschichte ein bisschen viel dem Zufall die Hauptrolle überlassen, als habe sie ihren Stoff nur mühsam bändigen können. Doch demonstriert „Die Geschichte eines Kindes“ gerade durch die Parallelführung der unterschiedlichen Schicksale von Danny und der Erzählerin, wie sich der Rassismus durch die Jahrzehnte und verschiedensten Gesellschaften zieht, wie sehr Aussehen und Herkunft gerade in homogenen Umgebungen Lebenswege entscheidend beeinflussen, von Ha, von Danny, auch von Franziska selbst. Wie amerikanisch ist ein Afroamerikaner im weißen Mittleren Westen der fünfziger Jahre, wie österreichisch eine aus Südkorea stammende Frau und noch mehr ihre in Wien geborene Tochter?
Anna Kim, die 1977 in Daejon, Südkorea geboren wurde und im Alter von zwei Jahren nach Deutschland kam (später studierte sie in<TH>Wien Philosophie und Theaterwissenschaften), dürfte die rassistischen Zuschreibungen, das von ihr hier vorgeführte „racial profiling“ aus eigener Erfahrung nur zu gut kennen. Wie gleichermaßen offensichtlich und subtil das alles ist, bildet sie kongenial auf verschiedenen Erzählebenen ab, auch in<TH>Form klar abgesetzter dialogischer Brüche und Perspektivwechsel.
Dabei wirkt diese „Geschichte eines Kindes“ leise, still, berührend, so wie das Haus von Joan Truttman der Erzählerin vorkommt, Kims Roman ist fern jedes appellativen Aktivismus. Die Akten sprechen hier ihre Sprache – und der Zwiespalt der Erzählerin. Zuschreibungen sind ihr ein Gräuel, sie fühlt sich in ihrem Innern zu Hause, nicht in ihrer äußerlichen Erscheinung.<TH>Und sie sagt, „Herkunft sei nicht die alleinige Bedingung für Zugehörigkeit.“ Es gibt viele solcher Sätze in diesem zeitgemäßen Roman, dessen zusätzliche Stärke darin besteht, bar jeden Auftrumpfens zu sein.
Anna Kim: Die Geschichte eines Kindes. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 228 Seiten, 22 €.
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