Kilroy was here

Sie sind überall, und schon deshalb nehmen wir sie gar nicht wahr. Was sind das für obskure Medien, die wir auf Gegenstände kleben, die wir vollkritzeln und irgendwo ablegen, oder die wir sammeln in der Hoffnung, sie seien die idealen Aufbewahrungsorte für unsere Gedanken? Dass Notizzettel, Post-its, Notizbücher, Kladden, Sudelhefte, Tagebücher alles andere als schlichte Medien sind, darüber hat der Kommunikationswissenschaftler Hektor Haarkötter ein aufregendes Buch geschrieben.

[Hektor Haarkötter: Notizzettel. Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021. 590 Seiten, 28 €.]

Es heißt „Notizzettel“, aber es umfasst den ganzen Komplex des Schreibens und Notierens. Auch den Suchtcharakter derjenigen, die als „große Notierer“ den Stoff dieses Buches liefern, manisch Schreibende wie der Philosoph Ludwig Wittgenstein, der Physiker und Naturforscher Georg Christoph Lichtenberg, der Schriftsteller Robert Walser und nicht zuletzt der Universalgelehrte Leonardo da Vinci, den Haarkötter als „Schreiber“ charakterisiert. Das Entwerfen, Skizzieren, Projektieren war dem Renaissance-Künstler wichtiger als die Ausführung. Als leidenschaftlicher Empiriker zeichnete er Nervenbahnen, Muskelstränge, Proportionen. Sein Skizzenbuch war auf allen Reisen dabei.

Haarkötters Studie macht Ausflüge in die Antike und den Dreißigjährigen Krieg. Der Schwerpunkt liegt auf der Erkundung dessen, was sich über Schreiben und Denken in Erfahrung bringen lässt, wenn man das Notieren zur Alltagspraxis nobilitiert. Zurecht stellt er fest, dass sich im „Digizän“, wie er die Gegenwart in Abgrenzung zu „Typozän“ und „Manuzän“ nennt, das Notieren auf Papier hartnäckig hält und sogar eine Renaissance erfährt. Notizen sind „private Medien“.

Das ist die Einsicht des Kommunikationswissenschaftlers, der auch als Journalist und Fernsehregisseur gearbeitet hat. Im Allgemeinen dienen sie der Kommunikation mit sich selbst, wie man das für den Selbstklärungsaspekt des Tagebuchs beschreiben kann. Sie dienen auch nicht dem Gedächtnis. „Medien sind zum Vergessen da“, lautet eine der kühnen Behauptungen Haarkötters.

Notiertes kann aus dem Gedächtnis gestrichen werden

Und es ist etwas dran: Notiertes kann aus dem Gedächtnis gestrichen werden, es wurde „externalisiert“. Wie aber geht man mit all den Gedächtnissubstituten um? Das ist höchst individuell. Doch die Problemlagen ähneln sich bei jedem Notierer, jeder Notiererin. Frauen sind in diesem Buch, das ist der einzige Wermutstropfen, extrem unterrepräsentiert. Mit wenig Mühe hätte man Kandidatinnen finden können: von Hannah Arendt über Anne Frank bis Simone Weil und Edith Stein, von Susan Sontag über Sophie Calle bis Anne Carson.

Anders als man glauben könnte, ist Schreiben nicht das Pendant zum Sprechen. Die Schrift ist ist ein eigenes Medium, das sich sogar als vorgängig begreifen lässt, wie das Jacques Derrida profilierte. Auch wenn man nicht so weit gehen will, leuchtet das Notieren als Kulturtechnik ein, die neben der gesprochenen Sprache existiert und sie nicht einfach repräsentiert. Von den frühen Höhlenzeichnungen bis zu modernen Graffiti erkennt Haarkötter eine Praxis der „Selbst-Schreibung“. „Kilroy was here“, zitiert er den Graffito-Slogan, der zum Urtext vieler territorialer Selbstbehauptungsgesten wurde.

Das Notieren hat einen Hang zur Zeichnung, zur Skizze und zum Bild. Es unterhält aber auch enge Beziehungen zum Inventarisieren, zur kaufmännischen Buchführung und zur Liste, etwa beim Einkaufszettel. Da gibt es ordentliche Varianten, vollgeschriebene, selten sind Einkaufszettel systematisch. Aus einem Zettel meint Haarkötter das Dinner-Rendezvous eines Mannes ablesen zu können. Für die Interpretation eines anderen Einkaufszettels fehlt ihm offenbar die Fantasie. Alle Textsignale verweisen darauf, dass hier eine ältere Person mit Gedächtnisproblemen ihre Geheimzahl verschlüsselt hat.

Fragen der Verschlüsselung gehören zu den interessantesten Phänomenen des Notierens. Wer etwas aufschreibt, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist, auch nicht für Personen des privaten Umkreises, macht sich Gedanken, was geschieht, wenn die Aufzeichnungen in falsche Hände geraten. Das kann posthum der Fall sein oder durch Neugier zu Lebzeiten. Berühmte Notierer haben für einen Teil ihrer Aufzeichnungen Geheimcodes entwickelt.

Eine Seite verschlüsselt, die andere unverschlüsselt

Wittgensteins Notizbücher haben eine „recto“–„verso“-Aufteilung. Die rechte Seite blieb unverschlüsselt, die linke Seite, auf der er homosexuelle Erfahrungen und andere intime Dinge notierte, codierte er. Auch Lichtenberg verwendete einen Code, wenn er von seinen sexuellen Obsessionen schrieb. Bei ihm entdeckt Haarkötter „Denkbücher“ und „Körperbücher“, die den hinfälligen Körper mit dem beweglichen Geist versöhnen sollten.

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Neben der Verschlüsselung ist das „Revisionsproblem“ eine der hartnäckigen Heimsuchungen der Schreibenden. Wie findet man wieder, was man sucht? Wie erinnert man sich an etwas, was man schon einmal wusste? Die meisten Notierenden lösen das Problem durch Weiterschreiben. Wo ein Notizbuch ist, finden sich bald Berge. Systemdenker finden andere Lösungen: „Zettelkästen“, die durch Schlagworte Verweis- und Erweiterungsstrukturen erlauben, wie sie der Systemtheoretiker Niklas Luhmann verwendete. Auch Arno Schmidts Zettelkästen, die er ab „Seelandschaft mit Pocahontas“ anlegte, stellt Haarkötter ausführlich vor.

Dass das Schreiben in „Untereinanderkonstellation“ nicht nur für Listen charakteristisch ist, führt zu dem Gedanken, auch das moderne Gedicht habe Listen- und Notizcharakter. Die Frage nach der Komplexität des Notierens, die man am Beispiel von Paul Valérys „Cahiers“ hätte erörtern können, gipfelt in einer Vorlesungs-Skizze Max Benses mit ausgeklügelter Geometrie. Obwohl nicht in Geheimsprache geschrieben, ist sie doch so privatsprachlich, dass nur er selbst sie lesen konnte.

Schreiben hilft oft genug dem Denken auf die Sprünge. Notieren gehört zu den Verfahren, die in den Randzonen des kontrollierten Bewusstseins ablaufen. Gerade in der Beiläufigkeit liegt ihr kreatives Potenzial. Andererseits hilft Notieren dabei, Ordnungskriterien zu finden, beispielsweise durch die Art, wie und wo man etwas auf einer Seite platziert. Während er auf und ab tigerte, konnte Max Bense auf der Tafel reproduzieren, was er zuvor skizziert hatte.

Auf nicht allzu systematische, immer inspirierende Weise erzählt Hektor Haarkötter vom „Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert“. Sein Buch ist gewitzt und einfallsreich, manchmal läuft es aus dem Ruder, aber es bleibt auch dort anregend, wo man sich, wie etwa bei Notizen aus weiblicher Hand, eine andere Gewichtung gewünscht hätte.