Ein skeptisches, aber liebevolles Porträt von Amerika

Vom Skateboard aus kann die neue Freiheit trügerisch wirken. Marvin rollt den Highway entlang, Jake McLaughlin in der Rolle des Enddreißigers ist mit seiner bulligen Statur und den tätowierten Armen dem Rollbrett schon sichtlich entwachsen. Aber im amerikanischen Niemandsland kommt man ohne fahrbaren Untersatz kaum vom Fleck. Der Bus wäre eine andere bewährte Option für eine symbolische Rückkehr – aber Franka Potente, die selbst vor über 20 Jahren in einem atemlosen Bewegungsrausch das Kino erobert hat, wählt für die Eröffnung ihres Regiedebüts „Home“ ein jugendliches Motiv.

Das Board ist tatsächlich noch ein Relikt seiner Jugend, über viel mehr Besitz verfügt Marvin auch nicht. 17 Jahre hat er nach einem Mord in der kalifornischen Kleinstadt Clovis im Gefängnis verbracht, da war Marvin noch ein Teenager. Das Gefühl der Heimat ist ihm in der Haft verloren gegangen – und nicht nur das. Er spürt keinen Schmerz mehr, seine Hand hält der Hitze der Flamme regungslos stand: Es ist keine Mutprobe, auch kein Beweis seiner Lebendigkeit. Marvin will sich für seine Tat bestrafen, die die Leben vieler Menschen in der kleinen Gemeinde zerstört hat.

Mit Franka Potente war einmal die Hoffnung verbunden, dass der deutsche Film auch Darstellerinnen von Hollywood-Format hervorbringen kann. „Lola rennt“ war ein Versprechen, in den ersten „Bourne“-Filmen stand sie neben Matt Damon vor der Kamera. Sie drehte abwechselnd mit Steven Soderbergh und Oskar Roehler und hatte Gastauftritte in Serien wie „Dr. House“, „The Shield“ oder „Claws“, für die es im deutschen Fernsehen bis heute kein Äquivalent gibt.

Potentes letzte Kinorolle war die Buddy-Komödie „25 km/h“, die erahnen ließ, dass hierzulande mit ihr immer noch niemand etwas anzufangen weiß. Gut für Franka Potente, dass sie heute in Los Angeles lebt, mit einer gesunden Distanz zur deutschen Branche. Riesige Ambitionen, das gab sie gerade in der „SZ“ zu, hatte sie nie, eine vernünftige Work-Life-Balance sei ihr immer wichtiger als eine Karriere.

Klassisches amerikanisches Schauspielkino

Aus dieser Tiefenentspannung heraus hat Potente nun ihren ersten Spielfilm gedreht, 14 Jahre nach dem Kurzfilm „Der die Tollkirsche ausgräbt“. Sie hat sich dabei von ihrer Wahlheimat inspirieren lassen. Das Städtchen Clovis liegt nur gut drei Autostunden von Los Angeles entfernt, aber die amerikanische Depression ist bereits tief ins Straßenbild eingeschrieben. Der Ort, an den Marvin zurückkehrt, hat mit seinen Jugenderinnerungen nichts mehr zu tun. Unter den Brücken leben die Junkies, Opfer der Opioid-Krise; hier trifft er auch seinen Jugendfreund Wade wieder, den Potentes Ehemann Derek Richardson als eine ausgemergelte menschliche Schattenerscheinung spielt. Seine todkranke Mutter Bernadette (Kathy Bates) hat beide Söhne verloren; als Marvin wieder vor ihr steht, gibt sie sich zunächst unversöhnlich.

Der Geistliche des Ortes (Stephen Root) und der Pfleger seiner Mutter (Lil Rel Howery, ausnahmsweise mal nicht als comic relief besetzt) sind die einzigen Menschen, die Marvin unvoreingenommen begegnen. Der Rest der Stadt steht dem Neuankömmling misstrauisch bis feindselig gegenüber, vor allem Russell (James Jordan) und seine jüngere Schwester Delta (Aisling Franciosi), die Enkelkinder der Ermordeten.

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„Home“ ist, das darf man durchaus als Kompliment verstehen, klassisches amerikanisches Schauspielkino. Den Film zeichnet eine fast lakonische Souveränität aus, auch weil mit dem Tom-Tykwer-Weggefährten Frank Griebe ein alter Vertrauter hinter der Kamera steht, der die Bilder nie mit Bedeutung überfrachtet. Potente, die zudem das Drehbuch geschrieben hat, gibt ihren Figuren viel Raum, um manchmal auch einfach nichts zu sagen.

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Drogenepidemie, Perspektivlosigkeit, Religion

Den Rest erledigt die atmosphärische Kinematografie: Impressionen eines Kleinstadt-Amerikas, das so spezifisch wie ortlos ist. Clovis könnte auch in Montana oder Kentucky liegen, die Mischung aus Drogenepidemie, Perspektivlosigkeit und verzweifelter Flucht in den Glauben ist zum Ausdruck der amerikanischen Gegenwart geworden, der Potente dankenswerterweise keine politische Schuldzuweisung unterschiebt. Man findet durchaus Parallelen zu Chloé Zhaos Roadmovie „Nomadland“, das bei aller Mobilität ebenfalls in einer sozialen Stasis verharrte.

Doch Potente ist keine nüchterne Beobachterin der Verhältnisse, „Home“ handelt letztlich von einer Erlösung. Delta, die im Schönheitssalon arbeitet und als Reinigungskraft in der örtlichen Klinik Schmerzmittel mitgehen lässt, um sie an die Junkies zu verticken, ist die erste, die die inneren Kämpfe Marvins versteht. Für eine Liebesgeschichte reicht es am Ende zwar nicht. Aber der Diner-Besuch von Marvin, Bernadette und ihr oder Marvins Ausflug zum Seniorentanz sind kurze Hoffnungsschimmer, die aus der tristen Wirklichkeit herausleuchten – und auf bezaubernde Weise auch nicht in die Realität des Filmes zu gehören scheinen.

Alle sind in „Home“ versehrt, die Zeit arbeitet unerbittlich gegen sie. Als Bernadette Wade, den Jugendfreund ihres Sohnes nach Jahren auf der Straße wiedererkennt, gibt sie ihm wütend und enttäuscht eine Ohrfeige. „Sie weiß noch, wer ich bin“, antwortet er fast erfreut. Eine menschliche Reaktion ist in „Home“ das höchste der Gefühle. (Ab Donnerstag in den Kinos)