Vor der Sondersitzung zur Berlinale: Die Bärengala, David Cunio und Claudia Roth

Das Zerwürfnis währt bis auf die letzten Meter. Am Montagnachmittag ist das scheidende Leitungsduo der Berlinale zu einer Sondersitzung des Aufsichtsrats der KBB GmbH geladen, so das Kürzel der Dachorganisation der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin. Unter Leitung der Aufsichtsratsvorsitzenden Claudia Roth.

Drei Wochen vor dem Vertragsende von Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian, kurz vor dem Amtsantritt von Nachfolgerin Tricia Tuttle, will die Kulturstaatsministerin die beiden zum Eklat auf der Abschlussgala der 74. Filmfestspiele einvernehmen.

Dass beide Seiten schlecht aufeinander zu sprechen sind, hört man immer öfter aus dem Umfeld der Berlinale und der obersten Kulturpolitikerin des Landes. Zerrüttet ist das Verhältnis schon lange, zunächst durch empfindliche Sparvorgaben, dann mit der Nicht-Vertragsverlängerung für Chatrian im August – bis dahin hatte sich Roths Behörde mit seiner Arbeit zufrieden gezeigt. Roth erntete internationale Proteste für den Quasi-Rausschmiss.   

Die jetzige Vorladung ist zunächst ihr gutes Recht. Als Berlinale-Dienstherrin steht es in ihrer Verantwortung, auf die allzu einseitigen Statements bei der Gala zu Israel und Gaza zu reagieren. Der israelische Preisträger Yuval Abraham sprach von „Apartheid“, sein palästinensischer Regie-Kollege bei „No Other Land“, Basel Adra, von „Slaughter“ in Gaza. Eine Jurorin des Dokumentarfilmpreises trug ein „Ceasefire now“-Schild auf dem Rücken, Encounters-Gewinner Ben Russell sprach gar vom „Genozid“ an den Palästinensern – die Reihe setzte sich sofort. Das Massaker der Hamas an der israelischen Bevölkerung wurde nur von Rissenbeek in ihrem Eingangs-Statement benannt.

Claudia Roth saß ebenso wie Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner in der ersten Reihe und applaudierte, so wie der übrige Saal. Niemand buhte. Der Eklat bedeutet auch ein Versagen der im Berlinale-Palast versammelten Zivil- und Kulturgesellschaft, mit Filmschaffenden, Sponsor:innen und Politiker:innen.

Am Ende des Abends dankte Roth dem Leitungsduo in einem schriftlichen Statement für seine Arbeit der letzten Jahre, ohne die antisemitische Schlagseite der Gala zu erwähnen. Erst zwei Tage später sprach sie von erschreckender Einseitigkeit und „tiefgehendem Israel-Hass“.

Im „Spiegel“-Interview vor einer Woche betonte sie, sie habe zwar bei Yuval Abrahams Appell für eine politische Lösung des Nahostkonflikts geklatscht, nicht aber bei Basel Adra. Auf die Frage, warum sie nicht dazwischengerufen habe, meinte sie, sie tue sich schwer mit der Vorstellung, dass Vertreter des Staats bei einer Kulturveranstaltung intervenieren. Auch gehöre die Vorbereitung einer Moderatorin nicht zu ihren Aufgaben.

Am vergangenen Dienstag legte sie bei einer „Kultur im Kanzleramt“-Veranstaltung nach. Offenbar steht sie unter Druck, auch seitens ihres Dienstherrn. Zwar war Olaf Scholz in letzter Sekunde verhindert, aber Kanzleramts-Chef Wolfgang Schmidt verlas dessen Eingangsrede, die auch kritisch auf die Berlinale-Gala und die anti-israelischen Äußerungen einging. Die Empathie habe allein einer Opfergruppe gegolten, der barbarische Terrorangriff der Hamas hätte nicht unerwähnt bleiben dürfen. Nach Rückenstärkung für die Kulturstaatsministerin klang das nicht.

In ihrem Schluss-Statement nach der Podiumsrunde zur kulturellen Teilhabe in der Demokratie kam auch Roth nochmals auf die Berlinale zu sprechen, neben der erneuten Aufforderung zu Codes of Conduct gegen Diskriminierung und Antisemitismus. Unter anderem monierte sie, dass der Name der Hamas-Geisel David Cunio während des Festivals nie benannt wurde.

Der israelische Elektriker und sein Zwillingsbruder Eitan Cunio spielten in einem Berlinale-Panorama-Film 2013 die Hauptrollen: „Youth“, ein erschütterndes Bruder- und Geiseldrama von Tom Shoval, erzählt von Israels verarmtem Mittelstand und einer militarisierten Jugend ohne Zukunft.

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David Cunio wurde am 7. Oktober mit seiner Familie aus dem Kibbuz Nir Oz von der Hamas verschleppt. Seine Frau – die er bei der PR-Arbeit für „Youth“ kennengelernt hatte – und ihre beiden Kinder kamen im November frei. Auch Bruder Eitan wohnte mit Familie im Kibbuz, sie konnten sich erfolgreich vor den Terroristen verstecken.

Die „Süddeutsche Zeitung“ hat recherchiert, dass die Berlinale bereits im Dezember von Filmkolleg:innen auf das Schicksal David Cunios hingewiesen worden war. Auch Claudia Roth und die Berliner Senatskanzlei wurden vor Festivalbeginn per Mail auf den Berlinale-Schauspieler aufmerksam gemacht, am 6. Februar.

David Cunio, Hauptdarsteller im Berlinale-Film „Youth“ (2013), ist seit dem 7. Oktober Geisel der Hamas.
David Cunio, Hauptdarsteller im Berlinale-Film „Youth“ (2013), ist seit dem 7. Oktober Geisel der Hamas.

© IMAGO/ZUMA Wire/Imago/Bring Them Home Now

Warum hat die Berlinale sich entschieden, bei der Festivaleröffnung und der Bärenverleihung zwar die Freilassung aller Hamas-Geiseln zu fordern, David Cunio aber nicht zu erwähnen? Konkrete Nennung sorgt für mehr Anteilnahme, die Opfer erhalten so ein Gesicht, eine Biografie. Solche Solidar-Adressen haben gute Tradition auf dem Festival, man denke nur an all die bei früheren Galas namentlich genannten iranischen Regime-Opfer und Berlinale-Gäste Jafar Panahi, Mohammad Rasoulof oder Nasrin Sotoudeh.

Auf Nachfrage heißt es vom Festival, man wolle „aktuell nicht weiter kommentieren“. Keine Antwort auch auf die Frage, ob Gala-Moderatorin Hadnet Tesfai seitens der Berlinale und des verantwortlichen, ausstrahlenden Senders ZDF/3sat gebrieft war für den Fall solcher einseitigen Statements. Hätte Tesfai auch nur kurz reagiert und neben dem Leid der Gaza-Bevölkerung das Massaker des 7. Oktober erwähnt, wäre die Gala womöglich anders verlaufen.

Und warum hat Claudia Roth nicht ihrerseits das Schicksal David Cunios angesprochen, als sie in ihrer Eröffnungsrede am 15. Februar den 7. Oktober einen „Tag des Mordens, der Zerstörung, hundertfacher Vergewaltigungen und Geiselnahmen“ nannte – und hinzufügte: „Bring them home. Now“? Warum wirft sie der Berlinale ein Versäumnis vor, das auch ihr eigenes ist? Roths namentliche Nennung von coronabedingt überlasteten Pflegekräften bei der Festival-Eröffnung 2022 ist in bester Erinnerung.

Kein Kommentar, heißt es auf Nachfrage auch aus ihrer Behörde. Man würde zu gerne wissen, wie Roth, Rissenbeek und Chatrian bei der Aufsichtsratssitzung den Streit auch darüber austragen.