Eine Frau und ihre Faszination für Perlen

Die Dinger sind so schimmernd und bunt wie die Frau, die sich ihnen verschrieben hat. Glasperlen! Bei dem Stichwort fällt einem erstmal nicht die Berliner Sammlerin namens Evelyn Ulzen ein. Eher denkt man an Hermann Hesses Roman „Das Glasperlenspiel“ und die Geschichten von weißen Kolonialisten und Händlern, die sich mittels Glasperlen an Ureinwohner in Amerika oder Afrika heranwanzten.

Dass die Herstellung von Glasperlen einst ein blühender europäischer Handwerks- und Industriezweig war, ist höchstens noch in Italien und Tschechien bekannt, wo ab dem 13. und 14. Jahrhundert die Zentren der Perlenherstellung in Venedig und Böhmen lagen.

Die Unesco immerhin ist bereits 2020 aufgewacht und hat der dort nach wie vor gepflegten kunsthandwerklichen Glasperlenproduktion einen Eintrag auf der Liste immaterieller Kulturgüter gewährt. Da war Evelyn Ulzen mit ihrem Interesse früher dran. Seit dreißig Jahren sammelt sie alles, was mit Perlen zu tun hat. In ihrer Gründerzeitvilla in Lichterfelde verwahrt sie 14 000 Stücke – von der Antike bis zur Gegenwart. Ulzen gehört zu den sechs Perlen-Verrückten von Denver, Colorado bis Venedig, die der Italiener Georg Ragnar Levi in seinem üppig bebilderten Band „Flora ad infinitum“ über die nach wie vor lebendige Kulturgeschichte der Perlenblumen würdigt.

Kunstobjekte und Krimskrams schmücken den Garten

Eine „wahre Fantastin“ nennt er Evelyn Ulzen, die ihrerseits mehrere Bücher über Glasperlen veröffentlicht hat, und schwärmt, ihr Anwesen wirke „als träte man in einen verwunschenen Garten, wo eine Fee durch einen Zauberschlag das Grün in Millionen kleine Perlen verwandelt hat“. Glücklicherweise existiert eine Mailverbindung in dieses Reich der Perlen und Feen und alsbald laufen freundliche Schreiben ein, gezeichnet mit der Unterschrift „Evelyn aus Perlyn“.

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Woher der Freund pittoresker Perlenblumen seinen Überschwang hat, begreift man sofort, wenn man vor Ulzens Haus steht. Kunstobjekte und Krimskrams schmücken den verwilderten Garten. Schon draußen am Zaun prangen Tierfotos und Gedichte. „Für die Kinder“, erläutert die Hausherrin. Ulzen ist eine zierliche Frau von 82 Jahren, deren pinker Lippenstift perfekt zu ihrem schwarzrosa Seidengewand passt. Und dann geht es hinein in ihr privates Perlenmuseum, das sie zusammen mit ihrem verstorbenen Ehemann Jürgen Ulzen, einst CDU-Bildungsstadtrat von Wilmersdorf, zusammengesammelt hat.

Kränze aus Perlen und Eisendraht im Treppenhaus der Lichterfelder Villa.Foto: Edvard Koinberg

Drinnen herrscht eine gewaltige Fülle von Dingen. Umfallen ist unmöglich. „Alle inventarisiert“, wie Evelyn Ulzen mitteilt, die beim Reden über Perlen so gar nichts feenhaftes an sich hat, sondern energisch darauf dringt, dass bei Material, Herstellung und Sorten auf genaue Begrifflichkeit geachtet wird. Da schlägt das Expertentum der Sammlerin durch, die bei Fragen zur Perlenproduktion, statt einfache Antworten zu geben, lieber auf ihre diesbezüglichen Bücher verweist und sie auch gleich in die Hand drückt. Ebenso wie eine gewickelte Perle, die schwer wie ein Stein ist und die ganze Hand füllt. Ein Gegenstück zu den Rocailles- oder Stickperlen genannten Winzlingen, die in allen Farben des Regenbogens existieren.

Weihnachten ist hier das ganze Jahr. Auf einem Tisch neben dem Wohnzimmersofa steht eine Plastiktanne geschmückt mit schimmerndem Gablonzer Baumschmuck. Übrigens gehören Bäume ebenso wie Engel zu Ulzens Spezialinteressen. „Ich schreibe an zwölf Büchern zugleich“, sagt sie und lacht, „deswegen muss ich 150 Jahre alt werden“. Zu dem mundgeblasenen böhmischen Baumschmuck aus Glasperlen hat sie natürlich auch eins verfasst.

Geniale Einfachkeit der Herstellung

Perlen gehören seit Jahrtausenden zu den ältesten Schmuckstücken der Menschheit und sind in Kulturen rund um den Erdball verbreitet. Einen plastischen Eindruck geben auch die Gewänder und Masken der hauseigene Afrika-Abteilung oben im zweiten Stock, die Evelyn Ulzen beim Rundgang durch ihr Perlenparadies zeigt.

An den Glaskörpern mit Loch fasziniert sie die geniale Einfachheit der Herstellung. „Aus Quarzsand und wenigen Beigaben, dem Gemenge.“ Und die Vielfalt der Produkte, die daraus gefertigt werden: Brillenetuis, Taschen, Buchdeckel, Hauben, Ikonen, Möbelverzierungen. „Sogar Stiefelknechte wurden einst mit Perlen bestickt.“ Ebenso der historistische Sessel da vorne, dessen Blumenornament bei näherer Betrachtung vor Perlen nur so glitzert. Die Brauthaube einer Schwarzwälder Tracht, die an der Wand lehnt, besteht aus Perlen. So wie die bunten Vorhänge, die die Fenster zieren.

Ein Ground-Zero-Gedenkkranz aus Perlen.Foto: Rosemary Kurtz

Die haben Evelyn Ulzen und ihr Mann in Indien fertigen lassen, wo sie auf vielen Reisen viele Perlenprodukte erworben haben. Bestickte Bräutigamsüberschuhe, Kopftrageringe für schwere Lasten, antike Perlen. Als das Römische Reich zerfiel, in dem das Perlenmachen blühte, kamen Kunsthandwerker von dort auch nach Indien, weiß Ulzen. Auf einem Acker bei Arikamedu ließen sich dort bei ihrem letzten Besuch vor elf Jahren noch antike Perlen finden. „Es ist ein Broterwerb, in der glühenden Hitze gebückt über dem Boden zu stehen, mit den Augen die kleinen Perlen zu erhaschen und auf Touristen zu warten, die sie kaufen.“

Handwerkskunst oder Scheußlichkeiten?

Das spannt einen Bogen zur europäischen Perlenindustrie, die Mitte des 20. Jahrhunderts abflaute, als Perlenzierrat aus der Mode kam. War 1928 noch die Tschechoslowakei der weltweit größte Perlenexporteur, hat sich die industrielle Fertigung heute hauptsächlich nach Indien, China und Japan verlagert. Jahrhundertelang waren für das mühselige, mies bezahlte Auffädeln der winzigen Glaskörper Armenhäusler, Frauen und Kinder zuständig, die Perlenschnüre und Pflanzenteile der künstlichen Blumen oft in Heimarbeit anfertigten, wie Ragnar Levi schreibt und mit Fotografien bebildert. „Da hingen oft traurige Lebensverhältnisse dran“, nickt Ulzen.

[Georg Ragnar Levi: Flora ad infinitum. Blühende Perlenkunst in Venedig und der Welt. Deutscher Kunstverlag, Berlin 2021, 216 S., 186 Abb., 42 €.]

Trauer einer anderen, endgültigen Art verströmen die surrealen Gebinde, die das Treppenhaus der Villa und weitere Wände füllen. Die mit weißen, schwarzen und blassvioletten Perlblumen geschmückte Gedenkkränze gehörten vor gut hundert Jahren zum beliebtesten Grabschmuck Europas. Besonders in katholischen Regionen wie Frankreich und Süddeutschland, aber auch in England und Skandinavien nutzten arme wie reiche Leute den Grabschmuck, der nicht welkt, aber rostet. Ob die Ewigkeitsblumen Handwerkskunst oder Scheußlichkeiten sind, war schon bei zeitgenössischen Geschmacksrichtern umstritten, wie Ragnar Levi mit lustigen Zitaten dokumentiert.

Bisher will kein Museum den Schatz übernehmen

Evelyn Ulzen hat das Grab ihres 2010 verstorbenen Mannes, der die gesammelten Perlkränze selber restaurierte, auf dem Südwestfriedhof Stahnsdorf mit einem extra farbenfrohen Exemplar geschmückt. Dass die Perlblumenherstellung seit den neunziger Jahren – auch im Zuge einer wiedererwachten Lust an altem Handwerk und Selbermachen – wieder Zulauf erfährt, zeigt ein spezieller Kranz in „Flora ad infinitum“: der Gedenkkranz vom Ground Zero in New York.

Dort setzte der unter Perlenhandwerkerinnen im Netz verbreitete Aufruf von Dalene Kelley, die Opfer des Terroranschlags mit Blumen zu ehren, eine rege Basteltätigkeit in Gang. Aus allen Teilen der USA und aus Europa wurden Perlblumen geschickt und zu drei großen Kränzen verarbeitet, die heute in Philadelphia, Washington und im Ground ZeroMuseum zu sehen sind. Als museale Ewigkeitsblumen.

Was die Zukunft von Evelyn Ulzens Sammlung angeht: Sie ist ungeklärt. Bisher hat sich kein Museum gefunden, dass den Perlenschatz komplett übernehmen will. Also hofft die Mutter dreier Kinder weiter auf eine honorige Institution, die es tut. Dass man ihre Leidenschaft für Perlen exotisch finden kann, beirrt Evelyn Ulzen keineswegs. „Was für den einen Kitsch ist, ist für den anderen Kunst“, sagt sie. Sicher liege der Materialwert von Edelsteinen höher als der von Glasperlen. Aber das Individuum Mensch sei so vielfältig, so dass man keinen Maßstab zur Bewertung von Schmuck anlegen dürfe. „Für mich ist die Freude am Stück entscheidend.“