In der Werkstatt des Magiers
Der Taktstock wird von einem edlen Reise-Etui aus braunem Leder geschützt. Oft muss Claudio Abbado ihn in der Hand gehalten haben, denn der aus Kork gearbeitete Griff zeigt starke Gebrauchsspuren. Zudem ist er auffällig schmal und kurz – andere Dirigenten bevorzugen da eine deutlich längere Haltefläche oder gar einen kugelförmigen Griff. Abbados Exemplar wirkt äußerst elegant, und ebenso sind auch die Dirigierbewegungen des 2014 verstorbenen Künstlers in Erinnerung.
Der Taktstock gehört zu den Pretiosen im künstlerischen Nachlass des Italieners, der derzeit in der Staatsbibliothek Unter den Linden katalogisiert wird. Alle weiteren Objekte nämlich sind „Flachware“, wie die Fachleute sagen: also Bücher und Schallplatten, CDs, Briefe, Klavierauszüge – und natürlich Partituren.
Felicia Stockmann ist für die Erschließung des Notenmaterials zuständig. Rund 2000 Bände lagern im 12. Stock des Musikmagazins, teilweise in Holzkästen mit aufklappbaren Plexiglasscheiben, die sich Abbado einst für seine Taschenpartituren hat bauen lassen. Vornehmlich mit Bleistift, manchmal auch mit Buntstiften, trug der Maestro seine Anmerkungen in den Notentext ein.
In den Proben sprach er wenig
Bevor er ein Werk öffentlich aufführte, beschäftigte sich Claudio Abbado oft jahrelang allein mit der Partitur in seinem Studierzimmer. Er wollte das Geschriebene wirklich durchdringen, in die Gedankenwelt des Komponisten eintauchen, auch mit Hilfe von Fachliteratur und Belletristik der jeweiligen Zeit. Wenn er dem Orchester dann gegenübertrat, war ihm seine Interpretation bereits in Fleisch und Blut übergegangen.
In den Proben konnte Abbado die Musikerinnen und Musiker zur Verzweiflung bringen, weil er kaum sprach, keine technischen Korrekturen machte, sich nicht zu konkreten Details äußerte, die er verbessert haben wollte. Stattdessen ließ er lange Passagen einfach unkommentiert wiederholen. In der Aufführung vor Publikum aber funktionierte die Kommunikation dann plötzlich auf geradezu osmotische Weise. Was im Kopf des Maestros vor sich ging, schien sich durch seine Gestik, ja durch seinen gesamten Körper zu verströmen. So entstanden ungemein intensive, atmosphärisch dichte Liveerlebnisse, unvergesslich für alle Beteiligten auf der Bühne wie im Saal, besonders bei den spätromantischen Sinfonien von Gustav Mahler, für deren ästhetische Ambivalenzen Abbado ein extrem feines Sensorium besaß.
Seine Weigerung, in der Vorbereitung große Worte zu machen, war ihm Mittel zum Zweck: Damit wollte Abbado die Orchester zum selbstständigen Denken zwingen. Handwerker mit Instrumenten, die sich nur als ausführendes Organ dessen sehen, was ihnen vom Leithammel mit dem Taktstock vorgegeben wird, waren ihm ein Graus. Sein Ideal erfüllte sich im kammermusikalischen Musizieren auch bei großer Besetzung. Jeder Spieler, jede Spielerin sollte sich für mehr interessieren als nur für die eigenen Noten.
Jetzt holt Felicia Stockmann die so genannten „Dirigierzettel“ hervor, die Claudio Abbado oft in seine Partituren eingelegt hat. In einer Kurzschrift, deren Codes nur er kannte, fasste er darauf die Werke zusammen, wohl um sich die wichtigsten Strukturen vor dem Auftritt noch einmal vergegenwärtigen zu können. Denn bei den Aufführungen hatte er selten Partituren auf dem Dirigentenpult liegen, meistens leitete er den Abend auswendig. Für die Nachwelt waren die „Dirigierzettel“ nicht gedacht, Abbado nutzte dafür zumeist Schmierpapier, das ihm gerade zur Hand war. Auf der Rückseite von Probenplänen finden sich die Steno- Hieroglyphen, auf alten Rechnungen oder auch auf Notizblöcken von Hotels, in denen er gerade logierte.
Die Partituren werden digitalisiert
Gar nicht enigmatisch, sondern für einen vergeistigten Künstler wie Claudio Abbado überraschend praktisch-pragmatisch ist dagegen, was auf den Titelseiten der Partituren steht. Dort nämlich dokumentierte er, wann, in welcher Stadt und mit welchem Orchester er das betreffende Werk aufgeführt hat. Manchmal sind auch die Gesangssolist:innen genannt. Alle Partituren, die Felicia Stockmann für den Katalog erfasst hat, werden digitalisiert, soweit es urheberrechtlich möglich ist. Denn Abbados geistiges Erbe soll der Öffentlichkeit möglichst umfänglich zur Verfügung stehen.
Obwohl es natürlich am faszinierendsten ist, sich die Originale vor Ort zu besehen. Zum Beispiel im neuen Claudio-Abbado-Saal im zweiten Stock der Staatsbibliothek. Noch ist er allerdings nicht fertig. Der markante orangerote Teppichboden liegt schon, Tische und Stühle stehen an ihren Plätzen, ringsherum an den Wänden sind Regale installiert. Für das Kunst-am-Bau-Objekt aus zwei Dutzend Uhren, das die Stirnseite des rechteckigen Raumes zieren soll, ragen bislang jedoch erst die Kabel aus der Wand, der Vitrinenschrank, in dem Objekte aus dem Nachlass gezeigt werden können, ist leer. Zur Nutzung bereit sind dagegen schon die Hörkabinen, in denen man Abbados Aufnahmen lauschen könnte, während man auf dem Laptop die digitalisierte Partitur mit seinen Eintragungen mitliest.
Von der „Fondazione Claudio Abbado“ hat die Staatsbibliothek neben den Noten und Tonträgern auch die komplette berufliche Korrespondenz geerbt. Für die mehr als 20 000 Briefe ist Alan Dergal Rautenberg zuständig, bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft läuft derzeit ein Antrag, mit dem die bibliothekarische Erschließung finanziert werden soll. Bis zu 180 000 Euro kann das kosten. Für die Erfassung den Notenmaterials hat die Staatsbibliothek bereits Mittel von der Staatsministerin für Kultur, Monika Grütters, sowie der Ernst von Siemens Musikstiftung erhalten.
Abbado war einer der bedeutendsten italienischen Intellektuellen seiner Zeit und er interessierte sich nicht nur für Musik, sondern für alle Künste, von der Poesie bis zum Kino. Was sich in seinen Berliner Jahren in den legendären Themenzyklen widerspiegelte. Außerdem dachte er politisch, mischte sich in Debatten ein, suchte als junger Mann mit dem Pianisten Maurizio Pollini und dem Komponisten Luigi Nono den Kontakt zur Arbeiterklasse, machte später als Weltstar ein Gastspiel in Mailand davon abhängig, dass die Stadt tausende Straßenbäume pflanzen sollte, zur Verbesserung des urbanen Klimas.
Jetzt sind die Berliner Philharmoniker gefragt
Schon beim Blättern im ersten Aktenordner der alphabetisch sortierten Abbado-Briefe stößt man auf jede Menge illustre Namen. Beim Freund Lennie Bernstein erkundigt er sich nach dessen Gesundheitszustand, mit dem Schauspieler Roberto Benigni hat er verschiedene Projekte zu besprechen. Caroline von Monaco empfiehlt er die Dirigentin Claire Gibault für die Chefposition beim Sinfonieorchester des Fürstentums, die langjährige Freundin Martha Argerich lädt er nach Ferrara ein – „mal nicht zum Arbeiten, einfach nur zur Erholung“. Höflich lehnt er Einladungen von Modeschöpfer Giorgio Armani oder dem damaligen italienischen Notenbankchef Mario Draghi ab, die ihn gerne bei diversen Society- Events dabeigehabt hätten.
Wenn es darum geht, Abbados Erbe zu pflegen, sind übrigens auch die Berliner Philharmoniker gefragt. Ihnen ist nämlich die Aufgabe zugefallen, den Nachlass inhaltlich zu kuratieren. 2019, zum fünften Todestag, hat Oliver Hilmes eine Ausstellungim Foyer der Philharmonie mit Fotos sowie Material aus der Staatsbibliothek gestaltet. Aber es geht auch darum, den Geist Abbados weiterzutragen. Zum Beispiel durch Projekte für den Profinachwuchs, der dem Dirigenten immer am Herzen lag: Allein vier Jugendorchester hat er gegründet. Junge Leute in die Gedankenwelt dieses uomo universale einzuführen, dieses allumfassend interessierten Künstlers, wäre eine noble Geste der Philharmoniker, um das Andenken an ihren langjährigen Chefs wachzuhalten.