Für mich, mit mir
Rituale gehören zum Leben, kommen alle Jahre wieder oder strukturieren unseren Alltag. In dieser Serie erzählen wir von Lust und Frust der Wiederholung
Ich bin hungrig. Diese Vorweihnachtszeit habe ich alles aufgesogen, was es an Traditionen gibt: Glühweintrinken, Weihnachtsmarkt, Kerzen am Adventskranz anzünden. Sechs Stunden lang hab ich mit meiner Familie Plätzchen gebacken, und dann am nächsten Tag gleich nochmal mit meinen Freundinnen. Auch dieses Weihnachtsfest war eine Rückkehr zum Ritual: Das immer gleiche Weihnachtsessen, die Fahrt von Berlin nach Hamburg am ersten Weihnachtsfeiertag, selbst beim Weihnachtsliedersingen habe ich begeistert mitgemacht. Für Silvester hab ich schon Pfannkuchen vorbestellt, Bleigießen muss auch sein. Das ist schön, das gibt Halt.
Nach einer küchenpsychologischen Reflektion über meinen neu entdeckten Rituale-Wahn kommt die Erkenntnis: Mein Leben ist – wie das vieler anderer – um einige Rituale ärmer geworden, seit es Corona gibt. Letztes Weihnachtsfest etwa fiel der Trip nach Hamburg zu den Verwandten aus, die großen Geburtstagsfeiern in der verrauchten Bar sowieso. Und alles Schöne, Ritualisierte, das das Arbeitslebens zu bieten hat. Der gemeinsame Gang in die Kantine um 12.30 Uhr, der Smalltalk beim Rauchen auf der Dachterrasse. Ich vermisse alles – und rauche nicht mal mehr, verdammt.
Morgens dem Radiowecker lauschen? Kein Ritual
Was jetzt? Ist es schon ein Ritual, wenn ich jeden Morgen eine Stunde lang katatonisch im Bett liege und den Nachrichten im Radiowecker lausche, ab und zu in den Halbschlaf abgleite und dabei surrealistische, von Politikerinnen und Virologen bevölkerte Träume habe? Was ist mit den täglichen Videokonferenzen? Die sind immerhin ritualisiert wie in der Kirche, alle wissen, was als nächstes kommt, wer als nächstes spricht.
Jede Gewohnheit kann zum Ritual werden, wenn die Tätigkeit gebührend zelebriert wird, denke ich mir. Da ich vor neun Uhr aber nichts im Leben wirklich genießen kann, stehen die Chancen schlecht für das morgendliche Radioweckerlauschend-im- Bett-Geliege. Und die Videokonferenzen führen eher vor Augen, was fehlt.
Der wohlige Geruch parfümierter Bodylotion
Nein, Rituale müssen etwas Schönes sein. Etwas, das ich bewusst tue, wofür ich mir Zeit nehme. Manchmal schleichen sie sich einfach ein. Seit einigen Wochen bin ich Mitglied in einem Fitnessstudio. Dort gehe ich mehr oder weniger regelmäßig hin, ein Tag aber ist fest eingeplant: Mittwochabends, 20.15 Uhr zum Yoga. Dafür treffe ich mich mit zwei Freundinnen, danach gehen wir noch in die Sauna. In kurzer Zeit ist das fester Bestandteil meiner Woche geworden, ich freue mich auf die gemeinsame Zeit, die Bewegung, die Wärme. Der Geruch der stark parfümierten Bodylotion, die es in der Umkleide gibt, erfüllt mich mit wohligen Gefühlen.
Mein guter Vorsatz für das neue Jahr: Mehr Rituale für mich. Mit mir. Meinen Hunger kann ich selbst stillen. Dafür muss ich nicht auf Weihnachten warten.
Bisher erschienen: Papa spielt den Weihnachtsmann (22. 12.), Warten auf die Geschenke (23.12.), Spaziergang am Heiligabend (24. 12.), Witze in Endlosschleife und letzte Pointen (27. 12.)