Brot mit Gürkchen

West-Berliner haben vermutlich schnell eine Antwort, von wo aus sie die Symphonie einer Großstadt dirigieren würden: von der Verkehrskanzel am Kurfürstendamm Ecke Joachimsthaler Straße. Die Baukonstruktion von Werner Düttmann und Bruno Grimmik aus dem Jahr 1955 schiebt sich futuristisch kühn in die Kreuzung. Die in Berlin lebende Amerikanerin Christine Sun Kim hat nun eine Partitur für dieses außergewöhnliche Dirigentenpult geschrieben, indem sie den Rhythmus der Ampelschaltung in Notationen übersetzte. Ihre Noten schweben auf grünen und rotem Grund vor den Glasfenstern der Kanzel. Hinten lässt sich eine Kinderzeichnung entdecken, die Sun Kims Tochter während des Entstehungsprozesses am Computer einfach hinzufügte. Sie durfte bleiben.

Sun Kims Umgestaltung des modernistischen Stadtmöbels ist der Startpunkt eines charmanten Ausstellungsparcours durch Charlottenburg, der zu diesem Sommer passt. Die beiden im Kiez lebenden Kuratorinnen Liberty Adrien und Carina Bukuts hatten während des Lockdowns ihre Nachbarschaft durch Spaziergänge ganz neu kennengelernt. Daran wollten sie andere teilhaben lassen – und sich zugleich in ihrer Profession als Ausstellungsmacherinnen betätigen.

Herausgekommen ist ein Rundgang, der vier Kilometer vom Kurfürstendamm bis zum Schloss Charlottenburg reicht und viel über Stadtgeschichte erzählt. Die neun Stationen führen zu Werken internationaler Künstler, die hier teilweise seit Jahren leben, trotz Teilnahmen an Biennalen und Documenta an ihrem Wohnort jedoch häufig unbemerkt blieben.

Im Zickzack-Kurs durch den Kiez zu lauter Entdeckungen

Das könnte sich ändern. „Balade“ haben Adrien und Bukuts ihre Tour genannt, nach dem französischen Wort für Spaziergang. Auch der Begriff Ballade steckt darin. Tatsächlich folgt man nach dem musikalischen Auftakt dem Weg beschwingt.

Um die Ecke geht’s weiter zum Delphi Filmpalast, wo der an der Universität der Künste lehrende französische Medienkünstler Jimmy Robert seinen Film „Cruising“ von 2019 noch einmal neu editiert hat, für „Balade“ nun mit Sound versehen. Fünf queere Performer streifen durch den Stadtraum rund um den gigantomanischen Parlamentspalast von Bukarest, dösen im Schatten eines Baums, ziehen sich die schwarzen T-Shirts über den Kopf, laufen weiter.

In Rumänien kämpft die queere Szene um Sichtbarkeit, ein gefährliches Unterfangen in dem konservativen Land. Robert kontrastiert ihr Verlangen mit der monströsen Architektur, in der sich die Staatsräson verkörpert.

Die Regisseurin Ulrike Ottinger hat ihre Kämpfe in den 1960er Jahren in Paris und in den 1980ern in Berlin gekämpft. Die Ausstellung im Institut Francais zeigt nach der Präsentation im Haus der Kulturen der Welt nochmals Textilarbeiten, Kostüme, Filme von ihr. Auch der Nachbau der Pariser Librairie Caligramme, der Ottinger vor zwei Jahren einen Film gewidmet hat, ist erneut zu sehen. Diesmal haben ihn die beiden Berliner Buchhandlungen Bücherbogen und Autorenbuchhandlung mit Belletristik und Theorie aus den 1960er Jahren ausgestattet.

Die beiden Kuratorinnen kooperieren mit Ladenbesitzern

Auch das zeichnet die Charlottenburger „Balade“ aus: dass die beiden Kuratorinnen die Zusammenarbeit mit Ladenbesitzerinnen, Kinobetreibern, Institutsleitern suchten. „Blossom“ gleich neben dem Hotel Savoy, eine weitere Station des Parcours, stellte etwa das Bouquet für Willem de Rooij zusammen, auf das man erst am Ende stoßen wird. Der gewaltige Strauß des niederländischen Konzeptkünstlers aus getrockneten Palmenblättern, die normalerweise auf dem Komposthaufen Botanischer Gärten landen würden, befindet sich passenderweise in der Kleinen Orangerie von Schloss Charlottenburg.

Hier stehen im Winter die vielen Orangenbäume, die nun während der warmen Jahreszeit in grünen Bottichen aufgereiht die Rabatten des Schlossparks begrenzen. Schöner ließe sich nicht anspielen, dass Palmen wie Orangenbäume eigentlich Exoten sind, deren Habitat ganz woanders ist. Im Schlosspark, Botanischen Garten repräsentieren sie Weltläufigkeit.

In der Loggia der Villa Oppenheim liegen Brotreste aus Ton

Auch bei Jumana Manna in der Villa Oppenheim knirscht es gewaltig, könnte man ihre Kunst hören. Da liegen auf dem Boden der herrlichen Loggia im ersten Stock, die sich zum Schustehruspark öffnet, auf und unter einem Gitter am Boden Reste von Brot: Fladen, Sesamstangen, Gebrösel. Tatsächlich sind sie aus Keramik gefertigt und erinnern an die Sitte in manchen Ländern, überschüssiges Brot als Geschenk an Fremde im Freien liegen zu lassen.

Ist es wirklich eine Gabe oder doch eher Entsorgung? Die Zeichen von Überfluss und Armut fallen zusammen – und das an einem Ort einstiger gediegener Bürgerlichkeit. Genauso widersprüchlich erscheinen Jumana Mannas Aufnahmen von Steinfladen mitten im Grünen, die offensichtlich von Betonmischern vor der Abfahrt abgelassen wurden: Zivilisation versus Natur. Die Arrangements der amerikanischen Künstlerin – hier kombiniert mit Betonblöcken, in die Wiesenpflanzen eingeschlossen sind – besitzen eine beklemmende Schönheit.

[www.balade-berlin.com; bis 22. August]

Zum Lachen reizen dagegen die Plakate der Reihe „Pickle Politics“ des Kollektivs Slavs und Tatars auf Litfaßsäulen in der Mommsen- und Wielandstraße. Abgebildet sind auf rosa Grund zwei riesige Gewürzgurken mit Brustwarzen an ihren Enden, aus denen Muttermilch tropft. Komisch gemeint ist das nicht, eher als kritische Hinterfragung der Situation von Müttern in unserer Gesellschaft. Kasia Korczak und Payam Sharifi, die beiden von Slavs und Tatars, haben Erfahrung mit dem Stadtraum, nur weiter im rauhen Norden. In Moabit, gleich bei ihrem Atelier, unterhalten sie eine Pickle Bar für saure Getränke.