Was will die Ratte an der Rampe?
100 Meter breit ist das Bühnenportal im Großen Festspielhaus in Salzburg, 25 Meter tief der Bühnenraum. Hier hat Romeo Castellucci ausreichend Platz gefunden für seine 1003-plus-x Schnapsideen zu „Don Giovanni“. Castellucci ist der zur Zeit meistumschwärmte Zampano musikferner Opernregie, er gilt als Alleinherrscher über alle ungelösten Bilderrätsel.
Seine Neuinszenierung dieser Mozartschen DaPonte-Oper, die im August 1922 als erste Oper der Salzburger Festspiele überhaupt unter Stabführung von Richard Strauss aufgeführt worden war, ist heuer das mit Abstand kostbarste Juwel im Reigen der Centenarfeier-Premieren: pompös ausgestattet, mit den meisten Mitwirkenden, dem größten technischen und logistischen Aufwand.
Sieben Minuten lang wird die Bühne also erst mal gründlich leer geräumt, während vom Band Tauben gurren. Ein Rudel weiß uniformierter, italienisch vor sich hinbrabbelnder Komparsen schleppt Bänke, Kreuze und Gemälde aus dem weiß ausgemalten, entfernt an die Kollegienkirche erinnernden Sakralraum, der hinter einem Gazevorhang schlummert.
Ein Flügel fällt aus dem Schnürboden
Nach neun Minuten trabt eine Ziege von links nach rechts. In der zehnten gibt es etwas Feuerzauber. In der elften Minute taucht hinten links die erste nackte Statistin auf. Und etwa eine Viertelstunde dauert es, bis die ersten Festgeschenke aus dem Schnürboden regnen: eine Luxuslimousine, ein Rollstuhl, ein halbes Dutzend Basketbälle und schließlich ein Konzertflügel, der krachend zerschellt, mit langem Nachhall.
Auf den Trümmern dieses Instrumentes klimpert Leporello (Vito Priante) die Begleitung zum ersten Rezitativ Don Giovannis (Davide Luciano); möglicherweise aber ist es auch umgekehrt: Der Don akkompagniert seinen Diener, was aufs gleiche hinausliefe, weil es sich eh um ein Zwiegespräch zwischen zwei Baritonen handelt, die beide ein ähnliches Timbre haben und einander in ihren schneeweißen Maßanzügen, zum Verwechseln ähneln.
Wo bleibt das Glossar zu den Symbolen?
Zu diesem Zeitpunkt stecken wir schon tief drin im d-moll- Schlamassel, wo es am dunkelsten ist. Der Komtur ist bereits tot. Er hat sich, ermordet von einer Handvoll Feenstaub, in Luft aufgelöst. Nur seine Krücke steht immer noch senkrecht, und Donna Anna (Nadezhda Pavlova) liegt davor, umgeben von fünf ihrer Erinnyen-Doppelgängerinnen, die sie umflattern wie ein Schwarm nasser Raben.
An dieser Stelle unterbrechen wir die Chronik der Ereignisse und wünschen uns, fürs nächste Mal, statt des Programmbuchs, ein Glossar zu den Symbolen. Auch wenn man diese Oper aller Opern so gut kennt, dass man sie auswendig mitsingen könnte: Es ist unmöglich, lustvoll Erkenntnisse zu ernten, wenn man zugeschüttet wird von den epidemisch sich vervielfältigenden, labyrinthisch verzweigenden Assoziationsfluten einer selbstreferentiellen Darbietung. Schon das Hingucken tut weh. Erst macht das müde, dann wütend. Wofür, zur Hölle, steht die Krücke? Der Hammer des Don? Die Sichel des Masetto? Warum werden die Basketbälle aufgeschlitzt? Wozu die Beinahe-Kopulation zweier Kopiergeräte?
Großartig: Tenor Michael Spyes
Was treibt die zahme Ratte an die Rampe? Wieso wächst das Kind von Donna Elvira (Federica Lombardi) und Don Giovanni so bedrohlich schnell? Warum hängt Zerlina (Anna Lucia Richter) einen goldenen Apfel auf im eigens dafür aufgepflanzten Bäumchen, während ihre bäuerlichen Freundinnen bergeweise die Apfelernte auf dem Fließband sortieren? Und wieso muss der in reichlich schneeweißen Stoff gewickelte Don Ottavio (Michael Spyres), während er sich himmlisch-lyrisch in seiner „Dalla sua Pace“-Arie verströmt, einen schneeweißen Königspudel, der eigentlich nur rasch wieder hinaus will zu seinem Tierbetreuer, rund um einen Stapel schneeweißer Heizkörper spazieren führen?
Im zweiten Aufzug ist plötzlich Schluss damit. Die Symbolik dieselt nur noch nach, der Kitsch obsiegt. Ja, es ist, als habe jemand plötzlich den Ideen-Stecker gezogen. Schon öfter hat es in Castelluccis Inszenierungen solcherart Brüche gegeben, immer dann, wenn er Laien und Alltagsrealität mit einbezieht ins Spiel. Hier sind es Salzburgerinnen, kleine und große, alte und junge, dicke und dünne. Sie symbolisieren die vielen Frauen, denen Don Juan verfällt. Keine 1003, wie es in der Registerarie heißt, aber immerhin, es sind 150. Sie dürfen als Bewegungschor den Hintergrund zum Niedergang des Wüstling ausdekorieren, zuweilen im Zuckerbäckerlook und in Slow Motion, weißrosa. Zuweilen in hautfarbenen Dessous. Oder, in der Friedhofsszene, eingehüllt in schwarze Ganzkörperkondome, die wild herumfuchteln, wie Halloweengespenster, was sicher allen großen Spaß gemacht hat.
Currentzis reizt die Extreme aus
Musikalisch gab es, nicht nur in dieser Szene, Koordinationsprobleme. Teodor Currentzis, der Geniale, scheint in die Spätphase seines dirigentischen Schaffens eingetreten zu sein. Sein Stil wird immer stacheliger und manierierter. Die Tempi verlangsamend bis an die Grenze des noch Singbaren, die Dynamik zurückschraubend bis an die Grenze des Hörbaren – um dann wiederum mit scharf zugespitzten Akzenten präpotent loszutoben. Sein Ensemble musicAeterna nebst Chor und die vier Continuospielerinnen glänzten mit individuellen Verzierungen und anderen improvisierten Zutaten, etwa harmonischen Überraschungsangriffen, die als Karikatur dessen anmuten, was einst als historisch informierte Aufführungspraxis Furore gemacht hatte.
Das ist zwar weit enfernt vom heutigen Stand der Mozartinterpretation, dem Publikum hat Pomp und Lärm der Produktion trotzdem gefallen. Dass die Pavlova, die ihre Karriere weitgehend Currentzis verdankt, als Donna Anna – neben dem fabelhaften Partner Michael Spyres – die hinreißendsten, idiomatisch perfektesten Arien abgeliefert hat, wurde ebenfalls vom Publikum umgehend quittiert: mit mindestens fünf Minuten Zwischenapplaus, und sogar noch viel länger, nach „Or sai qui l’onore!“, der lupenreinen, feuersprühenden Rachearie: „Du kennst den Verbrecher“. Das war das Beste, an diesem Abend.