Die Berlinale unter Leitung von Tricia Tuttle: Neuer Nachwuchs-Wettbewerb, Encounters-Reihe ist abgeschafft
Drei Monate ist Tricia Tuttle im Amt, als alleinige Intendantin der Berlinale und Nachfolgerin des Leitungsduos Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek, deren Fünfjahres-Verträge von Kulturstaatsministerin Claudia Roth nicht verlängert worden waren. Was hat die 54-jährige Amerikanerin seit dem 1. April bewerkstelligen können? Wohin geht die Reise, auch für die Jubiläumsausgabe der 75. Berliner Filmfestspiele vom 13. bis 23. Februar 2025?
An diesem Dienstag hat Tuttle mitgeteilt, dass sie den von Chatrian eingeführten zweiten Wettbewerb „Encounters“ für wagemutige, innovative Filme nicht fortführt. Und dass sie einen neuen internationalen Wettbewerb für Spielfilmdebüts, „Perspectives“, installiert.
Dieser soll bis zu 14 Welt- und internationale Premieren umfassen. Die Auszeichnung ist von der Gesellschaft zur Wahrnehmung von Film- und Fernsehrechten (GWFF) mit 50.000 Euro dotiert, sie wird von einer dreiköpfigen Jury vergeben. Bisher hatte das Festival gemeinsam mit der GWFF einen sektionsübergreifenden Preis für den Besten Erstlingsfilm vergeben.
„Wir suchen nach Spielfilmdebüts, die ein internationales Spektrum von Stimmen repräsentieren, eine kühne Filmsprache haben, spannende Perspektiven entwickeln und neue Sichtweisen auf die Welt bieten“, so Tricia Tuttle.
Vor gut zwei Wochen war wiederum bekannt geworden, dass der RBB sein seit 2017 gestiftetes Preisgeld für den besten Dokumentarfilm in Höhe von 40.000 Euro künftig nicht mehr bereitstellt. Spekulationen, ob der Rückzug mit dem Skandal um die diesjährigen Preisträger – die Regisseure des Films „No Other Land“ hatten sich bei der Bären-Gala deutlich israelkritisch geäußert – zusammenhängt, war der Sender entschieden entgegengetreten. Der RBB begründete des Aus mit der eigenen finanziellen Lage. Die Berlinale will den Preis trotzdem weiter vergeben.
Eine notwendige, richtige Entscheidung
Dass Tuttle die „Encounters“-Reihe nicht fortführen wird, ist keine Überraschung. Von Anfang an hatte dieser zweite Wettbewerb den ebenfalls auf Arthousefilme fokussierten Bären-Wettbewerb geschwächt und der ohnehin wagemutigen Forums-Sektion das Wasser abgegraben. Viele hatten auf ein Aus gehofft, es ist eine notwendige, richtige Entscheidung. Und dass die „Perspectives“ schon vom Namen her an die 2023 abgeschaffte Reihe „Perspektive Deutsches Kino“ erinnert, ist bestimmt kein Zufall. Das Bekenntnis zum Festival als Plattform auch für den Nachwuchs steht in bester Berlinale-Tradition.
Wir suchen nach Spielfilmdebüts, die ein internationales Spektrum von Stimmen repräsentieren, eine kühne Filmsprache haben, spannende Perspektiven entwickeln und neue Sichtweisen auf die Welt bieten.
Tricia Tuttle, Leiterin der Berlinale
Zu ihrem Amtsantritt hatte Tuttle denn auch angekündigt, es gehe nicht um eine radikale Änderung des Programms, sondern um „Weiterentwicklung und Klarheit“. Und vielleicht darum, „im Lauf der Zeit einige der größeren Filmtitel für die Berlinale zurückzugewinnen“.
Ein Festival fürs internationale Autorenkino, zugleich eine Startrampe für Publikumsfilme, ob aus den USA oder anderen Ländern, das war die Berlinale schon unter Dieter Kosslick: Die Mischung bildet die DNA des Festivals. Tuttle hält ganz offenbar daran fest – wobei es seit Jahren zu den größten Herausforderungen gehört, trotz der zeitlichen Nähe zur Oscar-Verleihung und der starken Konkurrenz von Cannes und Venedig Hollywood- und andere Großproduktionen an die Spree zu locken.
Interne Bewerber haben externe Kandidaten ausgestochen
Vielleicht gelingt das ja mithilfe der gestaffelten Leitungsstruktur, die Tuttle inzwischen installiert hat. Seit Montag sind zwei neue, alte Kurator:innen im Amt: Panorama-Chef Michael Stütz und die bisherige US-Delegierte des Festivals, Jacqueline Lyanga, haben die Programmdirektion für die Hauptreihen übernommen. Gemeinsam mit Tuttle kuratieren sie den Bären-Wettbewerb und die Reihe Berlinale Special mitsamt den Special Galas – in Zusammenarbeit mit einem neuen Auswahlgremium.
Auffallend daran ist nicht nur der USA-Fokus, sondern auch, dass die internen Bewerber auf die „Co-Directors of Film Programming“-Posten die externen Kandidaten in der offenen Ausschreibung ausgestochen haben. Setzt die vom Londoner Filmfest kommende Tuttle vor allem auf bewährte Teampower und interne Expertise – zumal Stütz auch weiterhin Panorama-Chef bleibt?
Auf Nachfrage teilt Tuttle mit, dass sie eine „stärkere Kommunikation und Zusammenarbeit“ über alle Abteilungen hinweg schaffen möchte. „In der bisherigen Struktur gab es mehr als 20 Abteilungsleiter, die direkt an den Geschäftsführer berichteten.“ Ziel ist also eine engere Verzahnung. Das sei wichtig, so Tuttle, „um Raum für eine intelligente Zukunftsplanung schaffen“. Und dafür, dass sie und ihr Team sich mehr mit dem Wichtigsten befassen können, „mit Filmen, Filmemachern und dem Publikum“.
Tuttle hat das Festivalteam enger miteinander verzahnt
Tuttle selbst beschreibt ihr neues Managementteam als „spannende Mischung aus internen Talenten, die sich weiterentwickeln werden, und neuen Führungskräften mit frischen Perspektiven und externer Markterfahrung“. Dazu gehören Florian Weghorn als Chief of Staff, bisher Co-Chef bei den Nachwuchs-Workshops von Berlinale Talents, und Miriam Reimers, bisher Referentin der Geschäftsführung, die als Direktorin für Produktion und Programm-Umsetzung unter anderem die Spielstätten organisiert. Und als Neuzugang Tommy Kommer, ein Deutscher aus Texas, der die Finanz- und IT-Abteilung leitet.
Ich denke insbesondere darüber nach, wie wir innerhalb dieser unglaublichen Stadt arbeiten und stärkere Partnerschaften aufbauen können.
Tricia Tuttle, Leiterin der Berlinale
Bereits im Mai hatte Tuttle bekannt gegeben, dass Tanja Meissner die neu geschaffene Position als Direktorin von „Berlinale Pro“ übernimmt. Berlinale Pro? Der Titel umfasst neben dem European Film Market (hier folgt Meissner auf den glücklosen Dennis Ruh) weitere Branchen-Initiativen des Festivals wie den Koproduktionsmarkt und die Berlinale Talents. Meissner hat frühe Berlinale-Erfahrung, arbeitete bei der Viennale sowie als PR- und Sales-Agentin. Auch hier bündelt Tuttle Aktivitäten, die bisher eher nebeneinander existierten, und zieht eine mittlere Führungsebene ein.
Kooperation statt Konkurrenz, auch das hat Tradition bei der Berlinale. Unter Kosslick, also bis 2019, gehörten die Sektionsleiter mit zum Auswahlgremium, Hauptprogramm und Nebenreihen waren eng verzahnt. In den nächsten Monaten werden Tuttle und die Programmer-Doppelspitze ihr Auswahlkomitee fürs Hauptprogramm bekannt geben.
Ein Manko von Tuttles Vorgänger Carlo Chatrian bestand darin, dass er kaum in Berlin präsent war. Eine teils der Pandemie geschuldete Abwesenheit, aber selbst 2023 blieb er weitgehend unsichtbar. Tricia Tuttle ist nach Berlin gezogen, sie hatte sich, obwohl noch nicht im Amt (und anders als Chatrian) im März den Fragen des Bundeskulturausschusses zu den Antisemitismus-Vorwürfen an die Berlinale gestellt. Nächste Woche, an ihrem 99. Amtstag, lädt sie Medienvertreter zum informellen Treffen.
„Ich denke insbesondere darüber nach, wie wir innerhalb dieser unglaublichen Stadt arbeiten und stärkere Partnerschaften aufbauen können“, sagte sie dem Tagesspiegel. Tricia Tuttle bemüht sich bereits jetzt mehr darum, in Berlin anzukommen, als Chatrian in seiner fünfjährigen Amtszeit.