„Kunst ist der einzige Raum für Lebensfreude“
Seit 2017 leitet Vasyl Vovkun, der zuvor drei Jahre Kulturminister der Ukraine war, als Intendant die Oper Lwiw. Er möchte das Haus mit einem engagierten Spielplan künstlerisch nach vorne bringen.
Im vergangenen Jahr hat er die international erfolgreiche Dirigentin Oksana Lyniv eingeladen, die Neuinszenierung von zwei unbekannten Opern des Mozart-Zeitgenossen Dmytro Bortniansky zu leiten. Lyniv dirigierte hier ihre erste Premiere nach ihrem großen Erfolg bei den Bayreuther Festspielen im Sommer 2021.
Das ehemalige k.u.k Opernhaus von Lwiw war im Auftrag von Kaiser Franz-Joseph erbaut und im Jahr 1900 eröffnet worden. Es ist eines der prächtigsten Theatergebäude Osteuropas und blieb wie die gesamte Altstadt von Lwiw von beiden Weltkrieg verschont. Nach der Renovierung strahlt es in orginalem Glanz.
Herr Vovkun, Ihr Land ist im Krieg, wie schwer war es, im April wieder mit den Vorstellungen im Opernhaus zu beginnen?
Die Nationale Oper Lwiw ist das einzige Opernhaus in der Ukraine, das trotz des Kriegs die Arbeit am 1. April 2022 wieder aufnahm. Es ist so hart für uns, diese schreckliche Realität zu akzeptieren. Ein seelischer Schock! Dazu kommen die surrealen Bilder aus Gostomel, Butscha und Irpin. Die sogenannte „Russische Kultur“ und „Russische Welt“ mündeten in furchtbaren Rassismus. Lwiw ist zum Zufluchtsort für Millionen von Flüchtlingen aus der östlichen und mittleren Ukraine geworden.
Beteiligen sich Ihre Mitarbeiter am Kampfeinsatz?
Gleich zu Beginn des Krieges haben sich Mitarbeiter des Theaters der Verteidigung des Landes angeschlossen. Viele von ihnen haben in der ukrainischen Armee gedient. Frauen haben Freiwilligen bei der Herstellung benötigter medizinischer und militärischer Ausrüstung und bei der Lebensmittelversorgung geholfen. Das Gesetz des Krieges und die aktuelle Situation forderten die Mithilfe aller Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen.
Da droht die Kunst zwangsläufig auf der Strecke zu bleiben.
Wir merkten durchaus, dass wir unsere künstlerischen Fähigkeiten vernachlässigten, weil unser Theater geschlossen bleiben musste. Deshalb haben wir es trotz des permanenten Bombenalarms gewagt, zu öffnen. Wir haben einen Bunker für Mitarbeiter und Publikum eingerichtet. Anfangs haben wir nur Konzerte veranstaltet, inzwischen geben wir wieder ganze Opern und Ballettvorstellungen. Während eines Fliegeralarms unterbrechen wir die Arbeit. Aber sobald er wieder aufgehoben wird, machen wir weiter.
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Was sind gegenwärtig für Sie und das Haus die größten Schwierigkeiten in Ihrer Arbeit?
Die größte Herausforderung in der jetzigen Situation besteht darin, dass sich das Leben für jeden Einzelnen, aber auch unser Team insgesamt dramatisch verändert hat. Wenn kreative Menschen ihre Träume und Pläne verlieren, entsteht im tiefsten Inneren eine große Leere. Eine kollektive Depression ist die größte Gefahr. Um die zu verhindern, haben wir sogar während des Krieges mit den Proben zu Francis Poulencs „Les Dialogues des Carmélites“ begonnen. Das ist wirklich hart, da wir keinerlei finanzielle Unterstützung dafür bekommen. Aber wir hoffen auf unsere europäischen Partner und auf die Verwirklichung unseres Traums.
Haben Sie immer noch genug Musiker, Sänger:innen, Tänzer:innen für Ihre Produktionen zur Verfügung?
Seit Beginn dieses Kriegs haben Millionen von Flüchtlingen Zuflucht und Schutz in Europa und anderen Teilen der Welt gesucht. Einige Ensemblemitglieder, vor allem Familien mit Kindern, sind ebenfalls ins Ausland geflüchtet. Aber das macht nur einen kleinen Teil unseres Mitarbeiterstamms aus und beeinträchtigt unsere künstlerische Arbeit nicht. Übrigens arbeiten inzwischen auch Künstler aus Charkiv, Odessa, Dnipro und Kiew auf unserer Bühne, weil ihre Theater geschlossen sind.
Warum ist es wichtig, auch in dieser Zeit Kultur anzubieten? Was bedeuten die Aufführungen den Menschen, wie reagieren Sie, wenn Sie in Ihr Theater kommen?
In diesen Kriegszeiten, wenn die Leute ständig mit Nachrichten und Bombenalarm konfrontiert sind und ihre täglichen Anforderungen und tragische Ereignisse bewältigen müssen, bleibt Kunst fast der einzige Raum, in dem man noch Freude und Leben spüren kann. Das erklärt die ausverkauften Vorstellungen und die aufrichtige Dankbarkeit gegenüber der Nationalen Oper Lwiw.