Elena Semechin übertrifft sich selbst: Nach der Krebsdiagnose zum Weltrekord

Punkt 20.30 Uhr fand in der Pariser Schwimmarena die Medaillenzeremonie für die drei Gewinnerinnen des Finales über 100 Meter Brust statt. In der Mitte stand die deutsche Para-Schwimmerin Elena Semechin. Als sie ihre Goldmedaille entgegennahm, glitzerten Tränen in den Augen der Berlinerin. All der Druck und die Zweifel schien in diesem Moment von ihr abzufallen – langsam realisierte die 30-Jährige, was sie bei den diesjährigen Paralympics gerade geschafft hatte und verneigte sich vor dem Publikum.

Bereits im Vorlauf am Donnerstagvormittag war sie mit einer Zeit von 1:13.19 Minuten einen neuen paralympischen Rekord geschwommen. Für das Finale am Abend hatte die sehbeeinträchtigte Schwimmerin ein ganz klares Ziel: Sie wollte eine neue Bestzeit schwimmen. In ihrem Fall bedeutete das einen neuen Weltrekord.

Vielleicht hat das heute auch anderen Menschen gezeigt, dass man nie aufgeben und an seine Wünsche und Träume glauben soll. Egal was passiert.

Elena Semechin

Und sie sollte es tatsächlich schaffen: In 1:12.54 Minuten schwamm Elena Semechin so schnell wie noch nie und verteidigte ihren Paralympics-Titel. Lange zittern mussten die mitgereisten Fans nicht – von Beginn an dominierte Semechin das Feld und schlug mit drei Sekunden Vorsprung an. „Ich bin einfach nur unfassbar glücklich“, sagte sie nach dem Rennen. Im Wasser habe sie noch gar nicht mitbekommen, dass sie wirklich Weltrekord geschwommen sei. Erst im Interview mit dem „ZDF“ erfuhr sie davon – und brach sofort in Tränen aus.

Die Schwimmerin hatte sich nach ihrem Sieg in Tokio vor drei Jahren zurück in die Weltspitze kämpfen müssen – und in ihr eigenes Leben. Nur etwa sechs Wochen nach dem bis dahin größten Erfolg ihrer Karriere erhielt Semechin die Diagnose Hirntumor. Auf eine komplizierte Operation folgten Bestrahlung und Chemotherapie. Die ganze Prozedur dauerte etwas mehr als ein Jahr.

„Die letzten drei Jahre waren eine harte Zeit“

Im März 2023 hatte sie den Krebs dann offiziell besiegt – auch wenn nicht auszuschließen ist, dass die Krankheit wiederkommt. Mit dem Schwimmtraining hatte Semechin nie ganz aufgehört und während ihrer Behandlung sogar an der WM 2022 teilgenommen. Mit ihrem verbesserten Weltrekord ist sie spätestens jetzt wieder ganz oben angekommen.

„Die letzten drei Jahre waren eine harte Zeit. Ich bin einfach sprachlos gerade“, sagte sie nach dem Rennen. Für sie sei trotz der Erfolge das Wichtigste, dass sie sich selbst, ihrem Körper und ihrem Geist gezeigt hat, dass man auch aus solchen Situationen herauskommen kann. „Vielleicht hat das heute auch anderen Menschen gezeigt, dass man nie aufgeben und an seine Wünsche und Träume glauben soll“, sagte Elena Semechin am Donnerstagabend: „Egal was passiert.“   

Bereits am Vormittag hatte auch Taliso Engel über die 100 Meter Brust bei den Männern einen neuen Weltrekord aufgestellt. In 1:01.84 Minuten schlug der 22-Jährige fast vier Sekunden vor den 15 anderen Schwimmern der Startklasse SB13 am Beckenrand an. „Mal schauen, ob ich im Finale nochmal einen drauflegen kann. Heute Abend will ich wieder Spaß haben und dann wird’s schon laufen“, sagte Engel nach seinem Vorlauf gelassen.

Als Taliso Engel dann später die La Défense Arena betrat, schlug er sich erst auf die rechte, dann auf die linke Hand. Hoch konzentriert und mit Kopfhörern stellte er sich hinter den Startblock der vierten Bahn. Arme und Beine wurden ein letztes Mal ausgeschüttelt, bevor „Take your marks“ ertönte und die acht besten Para-Schwimmer über die 100 Meter Brust ihre Startposition einnahmen. Das Startsignal hallte durch die Arena und das Finale begann.

Ähnlich wie im Vorlauf dominierte Engel das Teilnehmerfeld. Seinen Weltrekord aus dem Vorlauf konnte er zwar nicht mehr verbessern, aber mit sechs Hundertsteln über seiner Bestzeit sicherte er sich die Goldmedaille. „Ich habe eigentlich die ganze Zeit nur auf diesen Abend hingefiebert. Nach meinen ersten beiden Starts fühle ich mich jetzt unglaublich befreit und bin froh, dass alles geschafft ist.“

Elena Krawzow und Taliso Engel feiern ihre Goldmedaillen.

© dpa/Jens Büttner

Auch für Engel waren die vergangenen drei Jahre seit den Paralympics in Tokio 2021 nicht gerade leicht. Als Engel 2022 mit einer schweren Mittelohrentzündung aus dem Trainingslager in Belek abreisen musste, war auch den behandelnden Ärzten nicht klar, welches Ausmaß die Erkrankung annehmen würde. Engel konnte nämlich nach einem zusätzlichen Riss des Trommelfells nichts mehr auf seinem rechten Ohr hören. Es sollte ein Cochlea Implantat eingesetzt werden, um das Gehör des Nürnbergers wieder herzustellen.

Die dafür notwendige Operation war zugunsten des Trainings und der Vorbereitung auf Paris erst nach den Spielen 2024 angesetzt. Nach vielen unterschiedlichen Einschätzungen der Ärzte wurde im Oktober 2023 eine voranschreitende und irreversible Verknöcherung der Hörschnecke festgestellt. Es bestand die Gefahr, dass diese das Einsetzen des Implantats unmöglich machen könnte. Die Operation musste so schnell wie möglich durchgeführt werden.

Der Para-Schwimmer musste auf dem Weg zu seinem zweiten Titel bei den Paralympischen Spielen immer wieder Trainingsunterbrechungen hinnehmen. Am Donnerstagabend war davon dann nichts zu spüren: Engel ließ seinen Konkurrenten im Finale über die 100 Meter Brust keine Chance.

Für Taliso Engel und Elena Semechin gehen die Paralympischen Spiele 2024 also mit einem großen Erfolg zu Ende. Über- und wunschlos glücklich winkten die beiden ein letztes Mal dem Publikum der La Défense Arena entgegen. Um ihren Hals die neue Goldmedaille aus Paris.