Mein Zimmer ist jetzt ein Lagerraum

17. Mai 2022

Um 8.30 Uhr klingelt es bei mir an der Tür. Für die Post eindeutig zu früh, wer könnte es sein? Es ist ein Nachbar aus dem Vierten – mit zwei großen Säcken. „Bevor wir sie zu Oxfam bringen, fragen wir lieber Sie und spenden an die ukrainischen Flüchtlinge. Die können die Kinderklamotten doch sicher gut gebrauchen, dachten meine Frau und ich“, sagt er. Ich habe keine Antwort, nehme sie aber erst mal an.

Mein Zimmer sieht eh schon nach einem Lager aus, neben den sechs Gitarren, 2000 CDs und 800 Schallplatten stehen hier gerade noch zwei Stromgeneratoren und ein Karton mit den Tablets für die ukrainische Territorialverteidigung. Anfang März fragte mich mein alter Kumpel Artem, mit dem ich an der Charkiwer Uni in den Neunzigern tagsüber Fremdsprachen studiert und abends Frank Zappa gehört habe, ob ich mir vorstellen könnte, ein Teil seiner Logistikkette zu sein. Ich sagte sofort zu. Artem setzt sich seit acht Jahren freiwillig für die ukrainische Armee ein, er hat inzwischen viele Kontakte und weiß, was wo gebraucht wird.

Sonntags übergebe ich die Hilfsgüter an den Fahrer

Viele seiner Freunde und Kollegen, die er zuerst beim Rundfunk (wo wir beide gearbeitet haben) und dann im Charkiwer Büro der Austrian Airlines kennenlernte, möchten gern mit ihren Spenden die Ukraine unterstützen und Artem weiß, wofür man ihr Geld am effektivsten ausgeben könnte. Artems Freunde bestellen in Europa und lassen das Zeug an meine Adresse in Berlin liefern.

Oft weiß ich nicht, was ich heute bekomme, wer bestellt hat, wem ich was weiterschicken soll, aber dann ruft Artem an und alles wird schnell geklärt. Erste-Hilfe-Sets für Charkiw, 20 Tablets samt Speicherkarten und Schutzhüllen für Berdjansk, ein Laptop für Sumy. Sonntags ist meine Aufgabe, das Ganze an einen ukrainischen Fahrer zu übergeben, der zwischen Deutschland und der Ukraine pendelt.

Oft hilft mir dabei Marcus, er kennt Artem auch – vor fünf Jahren waren wir zusammen im Osten der Ukraine – ich spielte Konzerte mit Serhij Zhadan und seiner Band, Marcus filmte uns für sein Donbass-Roadmovie, das bis heute nicht veröffentlicht ist. Bevor wir damals im August nach Mariupol gefahren sind, haben Marcus und ich bei Artem in Charkiw übernachtet.

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Sonntags fahren wir die Sachen in Marcus’ Auto zum Treffpunkt nach Neukölln, dort wartet der junge Fahrer aus Lwiw, der immer lächelt, aber nicht so gesprächig ist. „Das ist für Artem“, sage ich, „Ruhm der Ukraine!“ „Ruhm den Helden“, antwortet er, „ja, ich weiß Bescheid.“

Heute lege ich bei der Eröffnung des Neiße-Filmfestivals auf. Die Regionalbahn bringt mich langsam, aber sicher nach Zittau, auf der Fahrt habe ich kurz Angst, meinen Halt verpasst zu haben, als ich eine SMS mit Informationen zum Datenroaming in Polen bekomme. Der Passagier gegenüber von mir bewahrt die Ruhe und liest eine Zeitung, auf deren Titelseite über den Prozess gegen den 21-jährigen russischen Soldaten in Kiew berichtet wird. Er hat einen ukrainischen Zivilisten durch Kopfschuss getötet und wird nun angeklagt.

Das Festival findet im Dreiländereck Tschechien-Polen-Deutschland statt, der Sprachmix unter den Gästen im Foyer des Gerhart-Hauptmann-Theaters ist bunt, hört sich jedoch ganz harmonisch an. Zur Festivaleröffnung wird ein ukrainisch-türkischer Film gezeigt. „Klondike“ wollte ich schon bei der Berlinale sehen, war aber nicht da. Hier schaue ich ihn mir endlich an. Es ist die Geschichte eines Paares, das zu Kriegsbeginn im Donbass lebt. Die Frau ist hochschwanger, der Mann streitet sich ständig mit ihrem Bruder, ihr Haus wird von einer Rakete getroffen, eine Wand ist komplett zerstört, zum Fliehen ist es fast schon zu spät, oder doch nicht?

Der Film von Maryna Er Gorbach ist stark und brutal. Er tut weh. Wenn man Ablenkung sucht, ist er genau das Gegenteil davon. Nach der Vorführung möchte keiner tanzen. Aber es ist trotzdem ein schöner Abend – so schön, wie er gerade nur sein kann. Ein Abend, an dem sich zwar alle Anwesenden über das Festival freuen, aber zugleich spüren, dass der Krieg nicht so weit weg ist und wirklich jeden von uns betrifft.

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