Kühl denkt es sich am besten

Wenn die Realität zum Crash-Test für Überzeugungen wird, verlieren Fragen des Stils an Bedeutung. Aber vielleicht ist genau das Gegenteil wahr. Aufmerksamkeit für den Stil kann ein Mittel der Realitätserkundung sein. „Tough Enough“ – so heißt dieser funkelnde Essay der Anglistin Deborah Nelson im bei der Chicago University Press erschienenen Original. Der Wagenbach Verlag hat ihm den etwas trüben Titel „Denken ohne Trost“ gegeben. Das ist zwar nicht falsch, verdunkelt aber die Pointe des Essays.

Denn es geht um Härte, Zähigkeit, Stringenz und Klarheit – insbesondere in der Darstellung von Leid und Schmerz. Die sechs Frauen, die Deborah Nelson mit ihren jeweiligen Werken versammelt, haben eine Gemeinsamkeit. Sie halten es für eine moralische, ethische und ästhetische Pflicht, sich ohne Ausflucht der Realität zu stellen. „Dass sie dem Schmerz ein Existenzrecht zusprachen, ja dass sie auf seine Alltäglichkeit insistierten, ist Teil ihrer Exzentrität“, schreibt Nelson über die Fotografin Diane Arbus, die Philosophinnen Simone Weil und Hannah Arendt sowie die drei Schriftstellerinnen und Essayistinnen Mary McCarthy, Joan Didion und Susan Sontag.

[Deborah Nelson: Denken ohne Trost. Arbus, Arendt, Didion, McCarthy, Sontag, Weil. Aus dem amerikanischen Englisch von Birthe Mühlhoff. Wagenbach Verlag, Berlin 2022. 240 Seiten, 22 €.]

Wie lässt sich eine Ethik vorstellen, die „auf Empathie verzichtet“ oder zumindest nicht in erster Linie auf Mitgefühl basiert? Das ist eine der zentralen Fragen. Mitten in den Erschütterungen des russischen Kriegs gegen die Ukraine wirkt es überraschend aktuell. Der Horizont, unter dem die Werke der sechs Frauen entstanden sind, überspannt die Schrecken des 20. Jahrhunderts, von den Weltkriegen über die Vernichtungslager bis zum Vietnamkrieg und den Jugoslawienkriegen. Insbesondere Hannah Arendt ist mit „Eichmann in Jerusalem“, ihrem Buch über den Eichmann-Prozess, der Herzlosigkeit den Opfern gegenüber bezichtigt worden.

Eisig und erbarmungslos

Das störte sie wenig, es entsprach durchaus ihrer Selbststilisierung, sie arbeitete den Begriff in ihrem posthumen Werk „Vom Leben des Geistes“ sogar weiter aus. Auch den anderen Frauen hängte man Etiketten an, die abwertend gemeint waren. Mary McCarthy wurde „erbarmungslos“, Simone Weil „eisig“, Diane Arbus „klinisch“, Joan Didion „kalt“ und Susan Sontag „unpersönlich“ genannt, berichtet Nelson.

Aus deutscher Warte könnte man zum Vergleich die Rezeption Ernst Jüngers heranziehen. Seine weit verfänglichere Schützengraben-Prosa wird nicht trotz, sondern wegen ihrer Kälte gern als stilistische Meisterleistung honoriert.

Soll man sich von Gefühlen leiten lassen? Als Folge geschlechtsspezifischer Zuschreibungen müssen Frauen einen gehörigen Mehraufwand betreiben, um die zentrale Bedeutung von Gefühlen in Frage zu stellen. Dabei geht es nicht um Gefühllosigkeit, sondern um die Kontrolle von Gefühlen. Sie haben in der Öffentlichkeit nichts verloren, ist Arendts klares Statement. Der Geist könne Gefühle zwar nicht bändigen, aber immerhin kontrollieren, wie sie nach außen dringen.

Dafür bedürfe es „erheblicher Übung der Selbstbeherrschung“. Nicht Gefühligkeit, sondern das Denken ist für Arendt „das Bollwerk der Moral“, wie Nelson formuliert. Die radikale Strenge und Härte von Simone Weils Theologie, in deren Zentrum das Leiden und die Wiedergewinnung des Tragischen stehen, habe auch damit zu tun, dass „sie sich systematisch Gefühle verbietet – Gefühle für sich selbst oder den leidenden Anderen.“

Gefühlsmanagement als Exerzitium

Susan Sontag, die einzige der sechs Frauen, die eine Ästhetik entwickelt hat, war keine systematische Denkerin. Umschwünge und Umwertungen finden sich bei ihr zuhauf, ihr Gefühlsmanagement war auch ein Exerzitium, um starke Gefühle in den Griff zu bekommen und deren Intensität gleichzeitig zu steigern.

In „Das Leiden anderer betrachten“ brachte sie den Argwohn gegen die entlastende Funktion des Mitgefühls auf den Punkt: „Solange wir Mitgefühl empfinden, kommen wir uns nicht wie Komplizen dessen vor, wodurch das Leiden verursacht wurde. Unser Mitgefühl beteuert unsere Unschuld und unsere Ohnmacht.“ Dass Susan Sontag während der Belagerung Sarajevos mit bosnischen Schauspielern Becketts „Warten auf Godot“ inszenierte, gehört zu den verkannten Aspekten ihrer politischen Sensibilität, die von heute aus betrachtet an Bedeutung gewinnen.

Zeitgeschichtlicher Kontext und rhetorische Analysen gehen in Deborah Nelsons Essay eine leichthändige Verbindung ein. Sie zeichnet Denk- und Sensibilitätsmuster nach, aber sie taucht auch in die einzelnen Werke ein und beschreibt das jeweils Besondere. Etwa die Doppelgesichtigkeit von Joan Didions Schaffen, mit einer zerbrechlichen, privaten Persona auf der einen Seite und der kontrollierten Unbarmherzigkeit ihres Stils auf der anderen Seite. Sie forderte „moralische Härte“ (moral toughness) und verfolgte mit ihrem Stil einen „moralischen und politischen Skeptizismus“.

Gegen Terror hat Ironie keine Chance

Nach dem frühen Tod ihres Mannes und der Tochter gegen „Selbstmitleid“ kämpfend, war auch das für sie eine Frage des Stils, über den sie sagte, „dass der eigentliche Sinn bereits im Rhythmus der Worte und Abschnitte angelegt ist (…). Die Art, wie ich schreibe, ist das, was ich bin oder geworden bin.“ Doch sie war auch klarsichtig genug, um bei einem Besuch in El Salvador zu erkennen, dass Ironie gegen Terror und Angst keine Chance hat.

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Wer heute Arendts Überlegungen zum Totalitarismus liest, kann nur staunen, wie aktuell sie geblieben sind. In „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ beschreibt sie, wie totalitäre Herrschaftsmethoden den „bisher gänzlich unbekannten Spielraum des ,alles ist möglich’“ ausreizen, der gerade dadurch definiert ist, „dass weder Nutzen noch wie immer verstandenes Interesse ihm Grenzen ziehen.“

Das ist eine an Nüchternheit kaum zu überbietende Diagnose. Sie hat in diesem Buch ebenso Platz wie stilistische Analysen. Deborah Nelsons „Denken ohne Trost“ ist tatsächlich ein Buch der Stunde.