„Rimini“ von Ulrich Seidl: Das Mammut im Nebel
Die Geflüchteten, die sich in der Adria-Residenz des abgehalfterten Schlagerstars Richie Bravo breitmachen, gehören gewissermaßen zur Standardausstattung eines Films von Ulrich Seidl. Sie hocken gelangweilt vor ihrem Campingmobil herum, lassen ihren Müll in der Einfahrt liegen und nehmen das Wohnzimmer in Beschlag. Natürlich ist Richie kein Altruist, es geht dem österreichischen Regisseur immer nur um den größtmöglichen Kontrast.
Der Schlagerkönig von Rimini – Pelzmantel über Unterhemd, fettige Haartolle, schmierige Anmachsprüche, von Michael Thomas als schwammiger Teddybär gespielt – wird in seinem ohnehin schon schrumpfenden Reich tatsächlich belagert. Und an diesem Punkt von „Rimini“ bekommen der pompöse Gestus und das sämige Gesäusel endgültig tragikomische Züge. Die Geflüchteten sind in diesem Szenario reine Staffage (sie sprechen keinen einzigen Satz) – und darin im Grunde gleichwertig mit dem Richie- Bravo-Pappaufsteller, vor dem der Möchtegern-Gigolo seine in die Jahre gekommenen Posen einübt.
Der morbide Sommer-Mythos Rimini
Als „Rimini“ im Frühjahr auf der Berlinale seine Weltpremiere hatte, blickte die Kritik versöhnlich auf diesen (für Seidls Verhältnisse) liebevollen Abgesang eines Mythos – womit sowohl Richie Bravo als auch der Badeort Rimini mit seinen All-inclusive-Hotels und den heruntergekommenen Casinos gemeint sein kann. Seit den Vorwürfen gegen Ulrich Seidl, die Anfang September erstmals „Der Spiegel“ in einer sechsseitigen Geschichte veröffentlichte, gefolgt von einer weiterführenden Recherche des österreichischen Magazins „Falter“, blickt man auf „Rimini“ und die Geflüchteten-Darsteller noch einmal mit anderen Augen.
Seidl wird – von Eltern und Mitarbeitern – vorgeworfen, seine jungen Darsteller bei den Dreharbeiten seines Films „Sparta“ in Rumänen nicht ausreichend geschützt, sie unter psychologischem Druck sogar zu traumatischen Szenen genötigt zu haben. Den Eltern hat er zudem vorenthalten, dass es in „Sparta“ um einen Mann mit pädophilen Neigungen geht.
Der Film selbst, der nach der Absage des Festivals in Toronto seine Premiere in San Sebastian hatte, ist ersten Kritiken zufolge unbedenklich, auch weniger provozierend als von Seidl gewohnt. Trotzdem stellt sich einmal mehr die Frage, unter welchen Bedingungen dieses Kino, in dem Laien neben professionellen Darsteller:innen spielen und um des „authentischen“ Ausdrucks willen auch mit zurückgehaltenen Informationen gearbeitet wird, entsteht.
Seidl hat die Grenzen von Fiktion und Dokumentation schon immer so weit verschoben, dass seine Filme auf dem schmalen Grat von Humanismus und Voyeurismus balancierten. Er hat sich dabei vor allem an seinen Landsleuten abgearbeitet – und die Kollateralschäden billigend in Kauf genommen. In seinem Spielfilmdebüt „Good News“ von 1990 waren das die indischen Zeitungsverkäufer in den Straßen von Wien; in „Paradies: Liebe“ (2012) die „Beach Boys“ in einem kenianischen Urlaubsressort, die älteren Österreicherinnen ihre Körper anbieten. Und in „Safari“ (2018) wird auf der Großwildjagd eine Giraffe vor der Kamera erlegt.
Die Kritik goutiert Seidls Filme mit fasziniertem Ekel
Die Frage der Machtverhältnisse (vor und hinter der Kamera), die Seidls Filme aufwerfen und in aller Ambivalenz auch reflektieren, stellt sich nach den Vorwürfen des „Spiegel“ noch einmal neu. Der „Falter“ fragt sogar, ob die „Methode Seidl“, die auch von der Filmkritik mitunter mit fasziniertem Ekel goutiert wurde, hier an ihre Grenzen stößt. „Rimini“ rührt ebenfalls an diesen Fragen; einerseits wegen der Geflüchteten-Darsteller – und weil Richies Bruder Ewald (Georg Friedrich) der Hauptdarsteller im Komplementärfilm „Sparta“ ist.
„Rimini“ wirkt schon deshalb unverfänglicher, weil er als überzeichnete Hagiografie angelegt ist, vergleichbar mit – auch hinsichtlich der Physiognomie ihrer Protagonisten – Aronofskys „The Wrestler“. In diesem Nostalgiemodus kann „Rimini“ in seiner Fremdscham-Inszenierung schwelgen, ohne das Publikum vollends vor den Kopf zu stoßen. Die atmosphärische Adria-Nachsaison tut ihr Übriges: Richie stapft im Pelzmantel wie ein Mammut durch den klammen Herbstnebel am Strand von Rimini, der morbide Charme der leeren Hotelfoyers und Casinos stellt eine Endzeitstimmung her.
Richie ist allerdings auch eine Figur, die sich allein schon wegen Michael Thomas’ imposanter Erscheinung nicht so leicht desavouieren lässt. Er nimmt sein Schicksal klaglos an. Die rüstigen Rimini-Touristinnen (im Anhang deren Ehemänner) bezirzt er genauso gewissenhaft wie die weiblichen Fans zu seiner Blütezeit, das „Amore mio“ kommt ihm immer noch voller Inbrunst über die Lippen; wie auch (Ehrensache bei Seidl) die von Thomas für den Film geschriebene „Winnetou“-Schnulze.
Sein karges Gehalt stockt Richie mit Liebesdiensten auf. Der Sex samt dirty talk ist Seidl-typisch unangenehm, aber inzwischen auch eine Masche. Richie hat sich mit seinen beschränkten Möglichkeiten dennoch seine Würde bewahrt. Als sein dementer Vater (Hans-Michael Rehberg in seiner letzten Rolle) im Pflegeheim ein Wehrmachtslied anstimmt, übersingt Richie ihn spontan mit „Amore mio“.
Richies ökonomische Zwänge verschärfen sich, als plötzlich seine erwachsene Tochter Tessa (Tessa Göttlicher) mitsamt Babyvater – ein junger Geflüchteter, der stets wie das leibhaftige schlechte Gewissen neben Vater und Tochter steht – auftaucht und 18 Jahre ausstehende Unterhaltszahlungen einfordert. Hallodri Richie, dem die Frauen sonst zu Füßen liegen, sinkt in Anbetracht der neuen väterlichen Verantwortung irgendwann buchstäblich auf die Knie.
(Ab Donnerstag im Kino)
Den Tessa-Nebenstrang hätte „Rimini“ im Grunde nicht nötig gehabt. Er deutet jedoch eine Altersmilde bei Seidl an, die dieses markante Werk ein wenig glättet. Sie lassen die jüngsten, gut dokumentierten Vorwürfe (in Rumänien wurden laut „Spiegel“ polizeiliche Ermittlungen aufgenommen) umso merkwürdiger klingen.
Seidl hat solche Kontroversen ja schon immer herausgefordert, sie wurden von der Kritik bisher eben nur vorrangig auf einer ästhetischen Ebene verhandelt. Die Filme selbst liefern allenfalls Indizien, keine Belege. Aber in einer Zeit, in der besonders Produktionsbedingungen hinterfragt werden, lässt sich das Werk nicht mehr so leicht vom Künstler trennen. Vielleicht ist die „Methode Seidl“ aber auch gar nicht obsolet, sondern bloß reformbedürftig. Seidl hat mit Kurdwin Ayubs auf der Berlinale ausgezeichnetem „Sonne“ eine junge Regisseurin produziert, die ein paar produktive Ideen dieser Methode offener, zeitgemäßer interpretiert. Der Blick von oben herab auf die Figuren stellt heute keine moralische Hoheit mehr her.
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