Vor starkem Beschuss wird gewarnt
21. August
Ich bin in der Straße des 23. August aufgewachsen – ein Datum, das außerhalb von Charkiw nur wenigen was sagt. An diesem Tag wurden die Nazis endgültig aus der Stadt verjagt. Heutzutage sollte man dazu unbedingt auch noch das Jahr erwähnen, nämlich 1943, damit klar wird: Es geht um den Zweiten Weltkrieg, um die deutschen Nazis und nicht um die russischen.
Mein Vater war leidenschaftlicher Fotograf. Seine Filme entwickelte und druckte er zu Hause, im Bad unserer Drei-Zimmer-Wohnung in der Straße des 23. August, Haus 43, wo wir eine Zeitlang alle zusammen lebten: meine Eltern, Großeltern und ich. Uns hat er oft und viel fotografiert. Wenn die Kindheitserinnerungen verblassen, sind seine Bilder immer da, in mehreren Fotoalben und inzwischen auch im Google Drive, gescannt und nach Jahren sortiert. Darauf sehen wir alle deutlich jünger und glücklicher aus.
In den letzten Monaten geht mir eins dieser Fotos nicht aus dem Kopf. Darauf spazieren wir mit meinem Opa Hand in Hand unsere Straße entlang, rechts kann man unser Haus sehen: ein 14-stöckiger Plattenbau, erbaut in den frühen 1970ern. Die Sonne scheint, wir sind beide gut gelaunt und lächeln, in meiner rechten Hand schwenkt ein rotes Fähnchen, der Opa hält in seiner linken eine Zigarette. Wir sind beide festlich gekleidet, für mein Alter – ich bin auf diesem Bild nicht älter als vier – sehe ich außerordentlich sauber aus. Wahrscheinlich gehen wir zur Demo, sonst kann ich mir dieses Fähnchen nicht erklären.
Ich kenne diese Straße wahrscheinlich besser als jede andere, und ich weiß, hinter uns sollte das Denkmal des Soldaten-Befreiers stehen; solange ich mich erinnern kann, war es immer da … aber dieses Foto ist ein Beweis dafür, dass ich mich täusche. Eigentlich wurde es erst 1981 errichtet, da war ich schon sechs. Hinter dem Soldaten (ja, wir Charkiwer nennen das Denkmal nur noch „der Soldat“) stellte man zwei riesige Kanonen auf. Die Jungs aus der Gegend fanden sie ganz toll und kamen jeden Tag wieder in der Hoffnung, den Knopf oder den Hebel zu entdecken, um sie endlich abfeuern zu können. Aber wir suchten vergeblich.
Als Kinder spielten wir beim Soldatendenkmal
2016 bin ich wieder in der Heimatstadt gewesen und war ausgerechnet am 23. August bei den Kanonen hinter dem Soldaten verabredet. Dabei ist mir ein neues Detail aufgefallen: Der Soldat hielt jetzt in seiner rechten Hand neben dem Maschinengewehr eine gelb-blaue Flagge. Ich war nach Charkiw gekommen, um mit Serhij Zhadan zu proben und anschließend auf eine Mini-Tour zu gehen.
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Aber zuerst wollten wir feiern, denn der 23. August war inzwischen als Termin für das Stadtfest festgelegt worden. Außerdem hatte Serhij Geburtstag und dazu präsentierte er noch am Abend seinen neuen Gedichtband in der Oper. Es war rappelvoll, wie es bei Serhijs Lesungen in der Ukraine immer der Fall ist, und die Geburtstagsparty bei ihm zu Hause ging ewig. Ich bin irgendwann gegangen, um wenigstens drei Stunden zu schlafen, denn gleich am nächsten Morgen schon um sechs sollten wir losfahren, um rechtzeitig in Mariupol anzukommen, wo unser Auftaktkonzert stattfinden sollte.
Seit dem 24. Februar taucht meine Straße immer wieder in den Nachrichten auf – nicht nur in den ukrainischen, auch in den internationalen Medien. Manchmal kann ich auf den Fotos sogar unser Haus entdecken. Es ist aber nicht im Fokus des Fotografen: Mal sieht man einen Zeitungskiosk mit zerbrochenen Fensterscheiben und einen Krater nebenan, mal eine Leiche eines zufälligen Passanten vor dem Markteingang gegenüber vom Soldaten, getötet bei einem russischen Raketenangriff.
Nach wie vor wird Charkiw täglich mit russischen Raketen beschossen. In dieser Woche, wo der Befreiungstag sowie der Tag der ukrainischen Unabhängigkeit gefeiert werden, wird oft vor möglichen Provokationen, aber auch vor starkem Beschuss gewarnt.