Salman Rushdie geht uns alle an
Es ist an diesem Sonntagabend im Neuen Haus des Berliner Ensembles der vielleicht eindrücklichste, bewegendste Moment, als die Berliner Rechtsanwältin und Menschenrechtsaktivistin Seyran Ateş ans Pult geht und vor ihrer kurzen Lesung sagt, dass sie als gläubige Muslimin nach der Veröffentlichung von Salman Rushdies Roman „Die satanischen Verse“ nicht beleidigt gewesen sei. Und: „Weder Gott noch der Prophet sind beleidigt.“ Und dann ruft Ateş vermutlich an alle Muslime gerichtet: „Hört auf, immer beleidigt zu sein.“
Kurz darauf liest sie eine Passage aus Rushdies Autobiografie „Joseph Anton“, in der es um die Herkunft des Autors aus der „muslimischen Ehrenkultur“ geht und wie er sich mit dem Zwang zur Unsichtbarkeit, dem Sich-verstecken-Müssen schwertat. „Auch wenn er nicht religiös war, stammte er doch aus dieser Kultur, und man hatte ihm beigebracht, Fragen des Stolzes große Bedeutung beizumessen.“, liest Ateş vor. „Sich zu verkriechen und zu verstecken hieß, kein ehrenwertes Leben zu führen. Und wie so oft in jenen Jahren fühlte er sich überaus beschämt, voller Scham und Schande.“ Ein letzter Satz, der Ateş dann noch ausrufen lässt: „Salman, du musst dich nicht schämen! Ich wünsche dir alles Gute!“
Kurzfristig aufgerufen und eingeladen zu der Solidaritätslesung für Salman Rushdie hatten der PEN Berlin und eben das den Leseraum stellende Berliner Ensemble, gut eine Woche nach dem Attentat auf den britischen Schriftsteller in Chautauqua. Das nicht zuletzt nach dem Vorbild der Solidaritätsveranstaltung, die es am vergangenen Freitag in New York vor und in der Public Library unter anderem mit Paul Auster, Siri Hustvedt, Hari Kunzru und Colum McCann gegeben hatte. Obwohl die Zeit der Vorbereitung und damit der medialen Verbreitung knapp war, ist das Neue Haus des BE mit gut zweihundert Menschen ausverkauft, und an der Abendkasse stehen noch so einige, die fragen, ob man nicht noch eine zweite Karte übrig habe.
Zwölf Autoren und Autorinnen sind gekommen, um Texte von Rushdie zu lesen, um „Words Against Violence“ zu sagen, wie die Veranstaltung überschrieben ist, darunter auch Sven Regener, Zoë Beck, Judith Schalansky und Priya Basil. Anders als in New York, wo die Autorinnen und Autoren praktisch aus dem Gesamtwerk Rushdies lasen, von „Mitternachtskinder“ bis hin zu seinem noch unveröffentlichten, für 2023 angekündigten neuen Roman „Victory City“ – und nur einmal aus den „Satanischen Versen“ –, geht es hier in Berlin konzentrierter zu; ist hier alles in Beziehung gesetzt zu Rushdies Schicksalsroman und was danach folgte.
Günter Wallraff liest eine Passage aus der Autobiografie
Es gibt Lesungen aus seiner Autobiografie „Joseph Anton“, mehrmals aus den „Satanischen Versen“, eine aus dem Nachfolgebuch „Harun und das Meer der Geschichten“ sowie zwei essayistische Passagen. Das wirkt schlüssig, weil man so Eindrücke von dem inkriminierten Werk, von Rushdies Gedanken nach dem irren Todesurteil gegen ihn und der Zeit des Untertauchens sowie seinem Kampf für die Freiheit der Kunst und gegen die Zensur bekommt. Eva Menasse trägt zunächst Auszüge einer Rede vor, die Rushdie als Präsident des PEN America gehalten hat, gefolgt von dem aus Köln zugeschalteten Günter Wallraff, der eine Passage aus „Joseph Anton“ liest. Wallraff hatte Rushdie 1993 in seinem Haus versteckt, unter ständiger Bewachung und mit gepanzerten Fahrzeugen vor der Tür.
Die Schriftstellerin und Moderatorin Thea Dorn ist dann die Erste, die aus den „Satanischen Versen“ liest, und zwar den furiosen Auftakt. Dieser präsentiert die beiden Hauptfiguren des Romans, wie sie beide aus zehntausend Meter Höhe aus einem geborstenen Flugzeug fallen. Zum einen der indische Schauspieler Gibril Farishta, der später immer mal zum Erzengel Gabriel gemorpht wird, zum anderen sein Landsmann und Gegenspieler Saladin Chamcha, der vor allem als Synchronsprecher Erfolg hat und London dann in Teufelsgestalt mit Hörnern auf dem Kopf und Hufen statt seinen eigenen Beinen erreicht.
„Dort oben im Luftraum“, heißt es bei Rushdie, „jenem weichen, nicht wahrnehmbaren Bereich, den das Jahrhundert ermöglicht hatte und der daraufhin das Jahrhundert ermöglichte, der zu einer seiner bestimmenden Sphären geworden war, zum Ort des Strebens und des Krieges, zu einem Ort, der den Planeten schrumpfen ließ, einem Mächtevakuum, der unsichersten und unbeständigsten aller Sphären, trügerisch, ständig in Auflösung und Wandlung begriffen …“
Die Journalisten Yassin Musharbash, Erin Güverin und Deniz Yücel, seines Zeichens auch PEN-Berlin-Mitgründer, lesen weitere Passagen aus „Die Satanischen Verse“, die vermeintlich heikleren, jene, die den Zorn islamischer Fundamentalisten erregt hatten: mit dem „zum Geschäftsmann gewordenen Propheten“ Mahound im Zentrum, dessen Auftritt bei einer Dichterzusammenkunft. „Ich bin der Verkünder und ich bringe Verse, von einem Größeren als allen, die hier zugegen sind.“
Auch auf Rushdies Übersetzer wurden Anschläge verübt
Es sind die satanischen Verse, die er später widerrufen wird. Und dann heißt es von ihm: „In jenen Jahren war Mahound – oder sollte man sagen der Erzengel Gibril? – oder sollte man sagen Al-Lah? – besessen von dem Gedanken an das Gesetz. Unter den Palmen der Oase erschien Gibril dem Propheten und spuckte Vorschriften, Vorschriften, Vorschriften aus, bis die Gläubigen, sagte Salman, die Aussicht auf weitere Offenbarungen kaum noch ertragen konnten.“
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Yücel weist darauf hin, als er die Taschenbuchausgabe des Romans vor sich auf den Pult stellt, dass das Buch momentan vergriffen sei und vom Verlag neu gedruckt werde. Die Penguin Random House Verlagsgruppe hat eine neue Auflage von 25 000 Exemplaren in Druckauftrag gegeben.
Ab diesem Donnerstag soll das Buch wieder erhältlich sein. Was dann vielleicht dem einen oder der anderen auffällt: Es gibt keinen Hinweis darauf, wer den Roman übersetzt hat. Nachdem 1991 der japanische Rushdie-Übersetzer Hitoshi Igarashi erstochen worden war, 1993 auch der italienische Übersetzer Ettore Capriolo und der norwegische Verleger William Nygaard Mordanschläge schwer verletzt überlebt hatten, ist in der deutschen Ausgabe der Name der Übersetzerin oder des Übersetzers bis heute geheim gehalten worden.
Vor diesem Hintergrund weist der in Berlin im Exil lebende türkische Autor und Journalist Can Dündar an diesem Abend darauf hin, dass es nach dem Verbot der „Satanischen Verse“ in der Türkei der Schriftsteller und damalige Herausgeber der Zeitung „Aydinlik“ war, Aziz Nesin, der erklärte, er würde das Buch übersetzen lassen. Und Dündar erinnert daran, dass am 2. Juli 1993 ein aufgebrachter Mob ein Hotel im türkischen Sivas stürmte, wo ein Kulturkongress stattfand, an dem auch Nesin teilnahm. Dabei kamen 37 Menschen, darunter viele Künstler und Schriftsteller, ums Leben.
Gläubige Muslime sollen ihre Stimmen erheben
Eren Güvercin wiederum, der direkt nach Ateş liest, bekennt, ebenfalls gläubiger Muslim zu sein. Und er sagt: Diese riesige Gruppe, die der gläubigen Muslime, hätte in Fällen wie dem von Salman Rushdie zu wenig das Wort erhoben und müsste noch viel mehr Solidarität demonstrieren.
Rushdie hat es in „Joseph Anton“ beschrieben, das hört man gut aus den vorgetragenen Passagen heraus, wie er einerseits viel Solidarität unter Autoren und Autorinnen erfuhr, andererseits nach und nach die Stimmung umschlug. Als etwa „George Steiner – das wahrhafte Gegenteil eines bigotten Ignoranten – zu einem machtvollen literarischen Angriff auf sein Werk ansetzte, den bald darauf weitere bekannte Figuren der britischen Medienwelt um ihre feindseligen Kommentare ergänzen sollten, so Auberon Waugh, Richard Ingrams und Bernard Levin“.
Dass man wohl „naiv“ gewesen wäre, hatte BE-Intendant Oliver Reese in seinem Grußwort gesagt. Sicher ist, dass die Sicherheit, in der sich vermutlich auch Rushdie mit den Jahren mehr und mehr gewiegt hat, eine trügerische war. Yücel gesteht ein, dass man ja so viel nicht tun könne, man Rushdie nur helfen könne mit Solidaritätsaktionen wie dieser, mit dem Feiern der Kunst- und Meinungsfreiheit. Daniel Kehlmann, der mit ihm befreundet ist, habe Rushdie von der Berliner Lesung in Kenntnis gesetzt, so Yücel. Er soll sich sehr gefreut haben. Es war ein Abend, der selbst in seiner Kürze nicht nur demonstrierte, wie reich Salman Rushdies Werk ist. Sondern auch, dass so ein Anschlag alle angeht, erst recht uns Schreibende.