Das Internet hört mit

Ein Abszess am Zahnfleisch sei keine Sache für die Telemedizin, meint einer, der es wissen muss. Angela (Zoë Kravitz) glaubt ihrem Zahnarzt, verzichtet aber trotzdem auf einen persönlichen Besuch zur Wurzelbehandlung. Der Corona-Lockdown hat ihre Angststörung getriggert, sie schafft es nicht, das Haus zu verlassen. Ihr Kontakt mit der Außenwelt beschränkt sich auf Blicke aus ihrem großzügigen Loft in Seattle, von wo aus sie ihren Lover und Nachbarn Terry (Byron Bowers) beobachtet. Schon ein gemeinsamer Taco am Food Truck vor dem Haus ist wegen Angelas Panik aber nicht drin.

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Als aktualisierter „Fenster zum Hof“ beginnt Steven Soderberghs Lockdown-Thriller „Kimi“, mit einer versehrten Psyche statt einem gebrochenen Bein als Isolationsgrund. Ein möglicher Mord lässt auch nicht lange auf sich warten, allerdings verschieben sich die Referenzen von Hitchcock auf Brian De Palmas Hitchcock-Hommage „Blow Out“. Der Mord spielt sich nicht auf der Blickachse, sondern auf einer digitalen Tonspur ab.

Angela arbeitet für ein so windiges wie erfolgreiches Tech-Unternehmen, das ein Alexa-artiges Gerät namens Kimi anbietet: ein inzwischen gar nicht mal mehr so futuristisch anmutendes Alltagsutensil. Ihr Job besteht darin, aufgezeichnete Missverständnisse zwischen Mensch und Maschine zu analysieren, um die Interaktion zu optimieren. Als sie mittels ein paar geübter Klicks eine recht eindeutige Drohung aus einer Tonspur herausfiltert, wird ihre Routine jäh unterbrochen.

Die große, böse Welt, die Angela ausgesperrt hat, sie kommt ganz von allein zu ihr. Und die junge Frau muss erkennen, was ihr Zahnarzt längst weiß: So sehr Computer uns durch den Alltag tragen mögen, so viel mittlerweile durch Datenübertragung statt körperlichen Kontakt passiert, so viele Dinge wir per Online-Call klären können – ganz ohne Körper geht es nicht. Das Zahnproblem lässt sich aus der Ferne diagnostizieren, nicht aber behandeln. Und der mögliche Mord lässt sich im digitalen Raum wahrnehmen, nicht aber beweisen.

Paranoia-Thriller

Und so muss Angela doch aus dem Haus in die Firmenzentrale, um den Fall zu melden. Und weil dieser Fall genretypisch bis in die hohen Gefilden des Tech-Unternehmens führt, wird „Kimi“ vom Hacker-Kammerspiel zum analogen Paranoia-Thriller. Soderbergh, der wieder unter Pseudonym auch für Kamera und Schnitt verantwortlich zeichnet, macht den Daten Beine, mit einer sich rasant beschleunigenden Verfolgungsjagd. Und beweist einmal mehr, dass seine Filme umso besser werden, je reduzierter, B-Movie-artiger sie angelegt sind. Mit erzählökonomischer Effizienz und handwerklicher Perfektion übersetzt er die von „Panic Room“-Autor David Koepp geschriebene Story in präzise Bilder, die von einer aufregenden Rohheit durchzogen bleiben, niemals nur aalglatt sind.

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Man hat es ja fast schon wieder vergessen: 2012 kündigte Soderbergh einen fünfjährigen Sabbatical an, aus dem er 2016 mit der starbesetzten Krimikomödie „Lucky Logan“ vorzeitig zurückkehrte. Seitdem ist Soderbergh umtriebiger und experimentierfreudiger denn je, er hat in den letzten fünf Jahren sieben Filme und eine Serie gedreht, darunter den mit dem iPhone gefilmten Thriller „Unsane“, eine Improv-Komödie mit Meryl Streep („Let Them All Talk“) und die Serie „Mosaic“, die zugleich als interaktive App auf den Markt kam.

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Leider nur Video-on-Demand

Leider ist „Kimi” nur wieder als Video-on-Demand auf zahlreichen Plattformen verfügbar, dabei stünde er dem aktuellen Kinoprogramm gut zu Gesicht. Zwar ist die Prämisse des Film altbekannt. Wie Koepp und Soderbergh diese Idee aber mit einem ganzen Wust an gegenwärtigen Debatten – von Big Data über die Pandemie und den Lockdown bis hin zu #MeToo und Straßenprotesten – auffüllen und mit Genremotiven der Filmgeschichte schmücken, das ist schon ziemlich großartig.

Wie in der Zahnarzt-Szene ist dabei immer eine hybride Konfiguration am Werk, ein Changieren zwischen digitaler Distanz und analoger Nähe, das sich bis in die Casting-Entscheidungen durchzieht. Angela ist als Figur so körperlos wie Zoë Kravitz in ihrem Spiel körperlich. Dieses Wechselspiel gipfelt in einem grandiosen Showdown, in dem Angela zu eine Art „Kevin allein zu Haus“ wird, nur eben mit Smarthome-Unterstützung.

Was vor dem Computer begann, endet so bei der Verteidigung des eigenen Lofts und seiner Fensterfront zum Hof im waschechten Body Horror. Eine spektakuläre Versöhnung zwischen Algorithmen und Körpern, die aus den in den Film eingespeisten Daten noch ganz beiläufig und organisch ein romantisches Happy End generiert. [Jetzt als Video-on-Demand]