Was tun, wenn es keine Hoffnung gibt?
Tränen sind kein Grund, sich zu schämen. Dr. Eddé, ein freundlicher älterer Herr im weißen Kittel, gibt zum Auftakt die Botschaft vor, um die es in Emmanuelle Bercots Film „In Liebe lassen“ geht. Wenn eine Pflegerin am Bett eines todkranken Patienten weint, ist das kein Makel, erklärt er seinem Krankenhausteam, es ist vielmehr ein Zeichen der Empathie, auf die es ankommt, will ein Hospiz das Sterben in Würde ermöglichen. Auch auf die Tränen im Publikum, das sei an dieser Stelle gesagt, legt es „In Liebe lassen“ – zuweilen mit demonstrativer Rührseligkeit – an. Ein Vorrat an Taschentüchern empfiehlt sich unbedingt.
Dr. Eddé ist das Alter Ego des prominenten libanesisch-amerikanischen Onkologen Gabriel A. Sara. Im realen Leben begleitet der charismatische Arzt unheilbar Erkrankte am Mount Sinai Krankenhaus in New York bis in den Tod. Er ist der eigentliche Star der in Frankreich angesiedelten Geschichte, die Emmanuelle Bercot mit ihrer Koautorin Marcia Romano ganz auf ihn und ein exemplarisches Mutter-Sohn-Paar zuschnitt.
Ihr Drehbuch gibt dem lebensklugen Kliniker über vier Jahreszeiten hinweg die Gelegenheit, seine Maximen einer tröstlichen Palliativmedizin mit natürlicher Überzeugungskraft zu verkörpern.
Wie Dr. Sara alias Dr. Eddé als souveräner Laie mit zwei schauspielerischen Schwergewichten wie Catherine Deneuve und Benoît Magimel vor der Kamera interagiert, ist für sich schon einen Kinobesuch wert, seine praktische Philosophie des Sterbendürfens ist darüber hinaus ein emotionales Pfund, das man unbedingt mit sich nachhause trägt.
Der Sohn verweigert die Chemotherapie
Benjamin Boltanski (Benoît Magimel), ein 40-jähriger Schauspieler, erfährt in Begleitung seiner besorgten Mutter Crystal (Catherine Deneuve) von Dr. Eddé, dass er an Bauchspeicheldrüsenkrebs leidet. Gewohnt, die eigenen Gefühle mit aufgesetzter Nonchalance zu überspielen, lehnt er die angeratene Chemotherapie ab. Auch wie viel Zeit ihm noch bleibt, will er nicht wissen, obwohl ihm der Arzt zur Wahrheit rät und dieses Prinzip zur wichtigsten Voraussetzung für eine vertrauensvolle Behandlung erklärt.
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Dass die Schauspielerin und Regisseurin Emmanuelle Bercot ihren, von beruflichen und privaten Misserfolgen frustrierten Protagonisten im Film als Schauspiellehrer mit einer Gruppe unbekümmerter junger Leute arbeiten lässt, die sich auf die Aufnahmeprüfung am Konservatorium vorbereiten, fügt ihrem Film eine mehrdeutige zweite Ebene hinzu.
Benjamin lässt in seinem Workshop Liebesszenen der Theaterliteratur proben und gerät im Lauf seiner Regieanweisungen selbst an den Abgrund seiner existentiellen Fragen: Was ist Wahrheit in der Begegnung mit Anderen? Bedeutet Präsenz im Spiel etwas anderes als der letzte, vielleicht einzige intensive Moment seines Lebens?
Ist es Verrat, wenn man die Hoffnung aufgibt?
Catherine Deneuve, die wie Benoît Magimel schon mehrfach mit der Regisseurin arbeitete, bleibt in „In Liebe lassen“ eine eher schattenhafte Figur. Die Rolle einer Dame von Welt, die ihr einziges Kind nie loslassen konnte und vielleicht für Benjamins jugendliche Absage an die Mutter seines nie anerkannten Sohnes verantwortlich war, füllt sie mit angstvollen, großen Augen in einem künstlich geglätteten Gesicht aus, ernst zu nehmen jedoch in der Verzweiflung, ihren Sohn zu verraten, wenn sie die Hoffnung auf Gesundung aufgibt.
Mögen Catherine Deneuves Erkrankung während des Drehs und zusätzlich eine Corona-Zwangspause den Film verzögert haben, der Wechsel der Jahreszeiten rund um die bei Paris gelegene Klinik macht jedenfalls den schwierigen Weg spürbar, den Benjamin gehen muss, um das Unabwendbare anzunehmen.
Sinhead O’Connors Song „Nothing compares to you“ führt die sich fremd gebliebenen Nächsten zusammen. Das ist Kitsch vom Feinsten, wie überhaupt die blitzblanke Anmutung der Klinik und das nach Model-Kriterien besetzte Pflegepersonal surreale Zugeständnisse an den Mainstream darstellen. Das Aufrüttelnde an „In Liebe lassen“ ist trotz der Einwände, dass der Gefühlsüberschuss heute oft verlorene Rites de Passage nahebringt, und damit von im Grunde lebensbejahenden Verbindungen zwischen Lebenden und Sterbenden erzählt.