Pastiche-Groteske „Das Ei des Kolumbus“ : Pin-up-Buben im Ministrantenrock
Die allein in den vergangenen fünf Jahren aufgedeckten sexuellen Missbrauchsfälle der katholischen Kirche gehen in die Tausende und haben ein derart riesiges Netzwerk an Tätern, Komplizen und stillen Mitwissern offenbart, dass man mitunter glauben mag, die ganze Einrichtung wäre allein zu diesem Zweck gegründet worden.
Was natürlich nicht der Fall ist, aber nach der Lektüre von Wenzel Storchs und Gerhard Henschels Gemeinschaftswerk „Das Ei des Kolumbus“ versteht man immer weniger, dass diese Enthüllungen so spät erfolgten. Storch ist ein künstlerisches Allround-Genie, in dessen Werk sich eine absolut originäre Ästhetik der katholizistisch-psychedelisch-poetischen Pastiche-Groteske als ein Strang herausgebildet hat, Henschel arrivierter Schriftsteller und Satiriker aus der „Titanic“-Schule.
Ihr Gegenstand sind längst vergessene Messdiener-Magazine aus den 50er bis 80er Jahren, aus deren Bilderfundus sie zehn Fotoromane montiert haben, die Hälfte erstveröffentlicht in „Titanic“ und „Konkret“ und ergänzt um einen brillant verfassten, galligen Anhang, in dem Storch (Zeit-)Geist und Produktionsbedingungen dieser Hefte seziert, die in teils sechsstelliger Auflage in den Kirchen auslagen – und hinter den Kulissen nicht selten in heftiger Konkurrenz zueinander standen.
„Ein deutscher Junge ist herb und fein / will Ritter der Ehre und Reinheit sein“
„Leuchtfeuer Ministrant“, „Am Scheideweg“ oder „Unser Guckloch“ lauteten die Titel, manchmal verantwortet von nur einem einzigen Redakteur, der bei der Gestaltung mit mehr Freiheiten gesegnet war, als den Würdenträgern lieb ist. Jedenfalls gibt man sich heute redlich Mühe, diese Auswüchse der betriebsinternen Popkultur und Massenmedien lieber totzuschweigen.
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Das nimmt nicht wunder: Dass man zunächst das Joch des Nationalsozialismus gar nicht erst abzustreifen versuchte, ist ja, schlimm genug, noch bundesrepublikanischer Usus. In einer „Leuchtfeuer“-Ausgabe aus dem Jahr 1950 ist beispielsweise ein Poster mit dem Foto eines singenden Ministranten enthalten, daneben der Text: „Ein deutscher Junge ist herb und fein / will Ritter der Ehre und Reinheit sein / kämpft leuchtenden Auges mit Kraft und Mut / als Christusträger von deutschem Blut.“
Allerorten Gesäße und angespannte Oberkörper
Wie sich hingegen der lüstern-verträumte Bilderkomplex den „Knaben“ und „Buben“ annähert, von denen augenscheinlich keiner älter als höchstens zwölf ist, zieht einem die Schuhe aus. Allerorten körperliche Ertüchtigungen, die Anlass bieten, Gesäße und angespannte Oberkörper der Jungen in den Fokus zu rücken: beim Schwimmen, Klettern, Laufen, Raufen; beim Eisschlecken, Kaplane necken, Scherze aushecken; neben den Bade- und Lederhosen dominiert als Modeaccessoire nur noch der Ministrantenrock.
Und wenn die Jungen nicht bäuchlings auf Tischen liegen oder in – Kinderjux eben, haha – Bondage-Posen verschnürt werden, sind sie meistenteils als Pin-ups abgelichtet: „Messbuben von vorn, Messbuben von hinten. Zu zweit, zu dritt, zu viert. Auf der Altarinsel mit Wein- und Wasserkännchen, beim Rumkalbern im Kreuzgang, unter ziehenden Wolken beim Prozessieren.“
Darunter auch viel Kleinformatiges, denn, so Storch, „damals trugen Seelsorger, die auf sich hielten, noch das Bildnis ihres Lieblingsministranten im Portemonnaie (oder versteckt im Herrenmedaillon)“.