„Killers of the Flower Moon“ in Cannes : Großer Empfang für Martin Scorsese und Leonardo diCaprio
Die Gästeliste am Samstagabend im Grand Théâtre Lumière von Cannes konnte sich sehen lassen. Neben den Stars Leonardo di Caprio, Lily Gladstone, Robert de Niro und Jesse Plemons liefen Kirsten Dunst, Cate Blanchette, Tobey Maguire, Salma Hayek, Isabelle Huppert, Robbie Williams und Princess Caroline of Monaco über den roten Teppich. Was logischerweise eben passiert, wenn das alte Schlachtross Hollywood, die alte Datenkrake Apple und das bedeutendste Filmfestival der Welt in einem Event verschmelzen.
Thierry Frémaux darf zu Recht stolz darauf sein, Martin Scorsese dazu bewegt zu haben, mit seinem jüngsten, vielleicht sogar, wie manche spekulieren, letzten Film „Killers of the Flower Moon“ noch einmal den Weg nach Cannes auf sich genommen zu haben: der Ort, an dem 1975 mit der Goldenen Palme für „Taxi Driver“ die Karriere eines der herausragenden Filmemachers des amerikanischen Kinos begann.
Schwanengesang einer Hollywood-Größe
Und es deutet einiges auf einen Schwanengesang hin, nicht zuletzt dank eines Interviews, das der Achtzigjährige kurz vor dem Festival dem Magazin „Deadline“ gab: Er sei erschöpft und die großen Geschichten seien doch eh alle erzählt. Auch der 86-jährige Ken Loach ist dieses Jahr mit seinem möglicherweise wirklich allerletzten Film mit dem treffenden Titel „The Old Oak“ an der Croisette. Cannes bereitet den großen alten Männern des Kinos noch mal die Bühne; Harrison Ford hat seine Ehrenpalme bereits am Mittwoch abgeholt.
Schon die Länge deutet auf ein letztes großes Epos über Amerika hin, mit 206 Minuten ist „Killers of the Flower Moon“ nur unwesentlich kürzer als Scorseses vorheriger Film „The Irishman“. Diesmal geht es aber nicht um italo-amerikanische Geschichte, sondern um ein Verbrechen an der indigenen Bevölkerung zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts.
Den Osage, die nicht zu den von den Europäern „zivilisierten“ fünf Völkern der First Nation gehören, wurde im Zuge der Landnahme große Teile des Osage Countys in Oklahoma zugesprochen. Die dort entdeckten Erdölvorkommen machten sie über Nacht zu den reichsten Amerikanern nördlich von Texas. Die kurze Sequenz zu Beginn des Films im Stil des frühen Kinos ist eine Art Stummfilm-Variante der Titelmontage von der HBO-Serie „Succession“.
Der König von Osage County
Der Rancher Bill Hale, gespielt von Robert de Niro, ist der Strippenzieher in Osage County, ein selbsternannter „König“. Nach außen gibt er sich als Patron der reichen Ureinwohner, während er sie hinterrücks durch das Einheiraten seiner Familienmitglieder und Günstlinge um deren Ländereien zu bringen versucht.
Seine Neffe Ernest (Leonardo di Caprio), gerade aus dem Krieg in Europa zurückgekehrt, wird, ohne es zu ahnen, auf Mollie (Lily Gladstone) „angesetzt“, für die er zunächst als Fahrer arbeitet. Die beiden heiraten bald, doch die Mordserie an den Osage, die die lokalen Ermittlungsbehörden ignorieren, nähert sich immer mehr der Familie Mollies.
Geld und Gier haben Amerikas Gewaltgeschichte bis ins 20. Jahrhundert vorangetrieben. Die „Osage Morde“ zwischen 1918 und 1931, die der Autor David Grann erst vor wenigen Jahren in seinem gleichnamigen Sachbuch rekonstruierte, waren der späte Ausläufer einer Historie, die mit der Besiedelung des amerikanischen Westens begann. Oklahoma war auch der Ort eines anderen amerikanischen Verbrechens: dem „Tulsa Massaker“ von 1921 an der schwarze Bevölkerung, nur wenige Jahre nach dem Widererstarken des Ku Klux Klans.
In „Killers of the Flower Moon“ taucht das fast über einhundert Jahre vergessene Massaker kurz in den Nachrichten auf: ein Indiz für die indigenen Bewohner von Osage County, das auch ihnen niemand zu Hilfe eilt – obwohl sie reicher sind als alle Weißen.
Hatte man bei „The Irishman“ fast schon das Gefühl, dass Scorsese langsam die Kräfte ausgehen, erinnert „Killers of the Flower Moon“ noch einmal an die große Epen über die amerikanische Gründerzeit – wie Michael Ciminos „Heaven’s Gate“ und Sergio Leones „Es war einmal in Amerika“. Leider ist der Tonfall oft nicht der Thematik angemessen, die Gangster und Killer wirken eher wie die läppischen Gestalten aus der Serie „Fargo“ – allen voran Ernest, der (ähnlich wie diCaprios Fernsehcowboy aus „Once upon a Time in Hollywood“) immer weinerlicher und rückgratloser wird. Erst im großen Erzählbogen zeigt sich der Respekt Scorseses vor dem Unrecht, das den Osage widerfuhr. Es ist tatsächlich eine von den Geschichten, die noch nicht erzählt wurden. Und nur wenige können sie heute noch so epochal inszenieren wie Scorsese.
Die große Entdeckung des Films ist Lily Gladstone, die Scorsese erstmals in Kelly Reichardts „Certain Women“ auffiel – ein Zeichen, welch aufmerksamer Beobachter des US-Kinos er immer noch ist. Gladstone spöttische Ironie, wenn sie Ernest erstmals trifft, und ihr Schmerz, wenn sie mitansehen muss, wie ihre Familie durch die Gewalt in Osage County immer mehr schrumpft, bringen eine neue Tonalität in das Männerkino von Scorsese. Gerne hätte man von Mollie mehr gesehen, aber auch das lässt sich nur schwer leugnen: „Killers of the Flower Moon“ ist nicht ihr Film, das Historienepos verwandelt sich mehr und mehr der Gangstergeschichte um de Niro und diCaprio an.
Ganz am Ende tritt dann aber Martin Scorsese selbst in einer fiktiven True-Crime-Radioshow vor die Kamera und trägt das Memoriam an die wahren Protagonisten und die Verbrechen vor, die an ihnen verübt wurden. Es ist ein bewegender Moment im bisherigen Festival. Und wäre letztlich auch der würdige Abschluss eines außergewöhnlichen Lebenswerks.