Zwischen den Fronten
In Brüssel bekommt eine 13-Jährige zum ersten Mal ihre Periode. In der gleichen Nacht kämpft in Aleppo eine Chirurgin um das Leben eines Mädchens, das einem Anschlag zum Opfer fiel. Zwei Szenen, in denen auf sehr unterschiedliche Weise menschliches Blut eine wichtige Rolle spielt: Zu Beginn von „Penelopes zwei Leben“ (aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann, Reprodukt, 176 S.0 20 €) werden sie parallel dargestellt und illustrieren das Spannungsverhältnis, in dem sich die Protagonistin des Buches befindet.
In ihrem vierten lange Comic erzählt die belgische Zeichnerin Judith Vanistendael in skizzenhaft wirkenden Tuschebildern von einer Frau, die zwischen zwei Welten lebt und damit mehr schlecht als recht klarkommt. Hier der Job als Chirurgin für eine Hilfsorganisation im syrischen Bürgerkrieg, dort das Familienleben mit Mann und Tochter in Brüssel.
Eindrucksvoll vermittelt Vanistendael, die selbst eine Tochter im Teenager-Alter hat, wie schwierig es ist, diese beiden Welten zu zusammenzubringen. Die Erzählung wurde, wie eine gezeichnete Kurzgeschichte im Anhang vermittelt, von einer Reportage inspiriert, die die Autorin 2017 für einige Tage ins Flüchtlingslager Moria auf Lesbos führte.
Die Hauptfigur in „Penelopes zwei Leben“ fühlt sich zu ihrem Job offensichtlich mehr hingezogen als zu Mann und Kind, in der heimischen Wohnung wirkt sie wie ein Fremdkörper. Eine Situation, in der sich im klassischen Familienverständnis normalerweise eher Männer wiederfinden. Das entspricht dem Rollenbild seit Homers Odysseus, von dem sich Vanistendael nicht nur zum Buchtitel inspirieren ließ.
Bei Frauen wie der Protagonistin dieses Buches wirkt ein derartiges Verhalten hingegen immer noch wie ein Tabubruch. So regt die Lektüre von „Penelopes zwei Leben“ dazu an, tradierte Rollenbilder zu hinterfragen. Allerdings macht die Autorin es ihrem Publikum nicht leicht, die Motive ihrer Hauptfigur wirklich zu verstehen.
Sie fremdelt mit dem behüteten Alltag in Brüssel
Auf der einen Seite vermittelt Vanistendael sehr deutlich, dass die Arbeit im Kriegsgebiet Penelope belastet und traumatisiert, aber zugleich auch erfüllt und unwiderstehlich anzieht. Aber warum sie zu ihrem Mann und ihrer Tochter kein wirkliches Verhältnis aufbauen kann, sich daheim nutzlos fühlt und mit der Idee eines behüteten Alltags in Brüssel fremdelt, kann man als Leser nur mutmaßen. So bleiben auf der inhaltlichen Ebene viele Fragen offen.
Auch zeichnerisch wird vieles eher angedeutet als offengelegt, wenn auch auf künstlerisch ansprechende Weise. Vanistendael versteht es, Stimmungen durch Farben, Schattierungen und wenige klare Linien zu vermitteln. So gewähren einige starke Bildmetaphern und Passagen wie die Anfangs erwähnte Einstiegsszene visuell überzeugende Einblicke ins Seelenleben der Protagonistin, die offenbar tiefer traumatisiert ist, als es zu Anfang den Anschein hat.
An das künstlerische Niveau und die erzählerische Intensität ihres Meisterwerks „Als David seine Stimme verlor“, in dem Vanistendael autobiografisch grundiert von einer Krebserkrankung und ihren Folgen erzählt hat, reicht ihr neues Buch aber nicht heran.