Kurdisches Filmfestival Berlin: Kindheit im Schatten des Krieges

Eben war Sero noch Sero. Ein aufgeweckter Sechsjähriger, in Liebe eingehüllt. Das Augenlicht seiner Mutter, der Kumpel seines Großvaters. Nun ist Sero (Serhed Khalil) Genosse. Trägt eine braune Pionieruniform. Und steht am ersten Schultag beim Appell vor der syrischen Flagge stramm. Den rechten Arm zum Schwur auf den „ewigen Führer“ Hafiz al Assad zu recken, will nicht klappen. Der Lehrer muss nachhelfen. Der Beginn der Schule markiert für den kurdischen Jungen, dessen Dorf nur einen Steinwurf von der türkischen Grenze entfernt liegt, das Ende der Unschuld.

Das Grenzgebiet als Abenteuerspielplatz

Mano Khalils zärtlich-tragisches Kindheitsdrama „Nachbarn“, das diese Woche in den Kinos startet, eröffnet am Donnerstag auch das Kurdische Filmfestival in Berlin. Der 1964 in Kamishly, Kurdistan, geborene Filmemacher lebt in der Schweiz und hat autobiografische Erfahrungen in seine Geschichte einfließen lassen. Der ruhige Erzählfluss, mit dem er Seros Geschichte als lange Rückblende in die siebziger Jahre entfaltet, atmet die Weite der nordsyrischen Landschaft. Ein sandfarbenes Panorama, das nur dem Himmel untertan zu sein scheint – wären da nicht Grenzstacheldraht und Wachttürme.

Für Sero sind sie auch Abenteuerspielplatz. Zusammen mit seinem Lieblingsonkel Aram lässt er Luftballons in den kurdischen Farben aufsteigen, die die türkischen Grenzer sofort mit dem Gewehr runterholen. Eines Tages liegt dann Seros Mutter tot am Fluss, beim Wäschewaschen erschossen. „Nur eine Kurdin weniger“, herrscht Onkel Aram wütend die untätigen syrischen Grenzer an. Wenige Tage später holt ihn zum Entsetzen von Nachbarin Hannah die Geheimpolizei ab.

Hannah ist in Aram verliebt und Seros beste Freundin. Sie und ihre Eltern sind Juden und besitzen im Syrien der panarabischen Baath-Partei weder Staatsbürgerschaft noch Papiere. Da sind die durch die türkisch-syrische Grenzziehung voneinander getrennten kurdischen Familien noch etwas besser dran. Nur, dass sie ihre Kultur tunlichst für sich behalten sollen. Seros Lehrer weiß, dass Zwangsarabisierung durch Sprache geschieht. Reden die Kinder Kurdisch, setzt es Schläge.

Das Gift antisemitischer Indoktrinierung setzt sich schleichend in den Kinderköpfen fest, Sero traut sich kaum noch, den Kuchen von Hannas Mutter zu essen. Der Lehrer hat den Kindern Schmähschriften gezeigt, in denen Juden Kinder töten und ihr Blut in Kuchen rühren.

(In den Kinos Babylon, fsk, Cineplex Neukölln Arcaden (OmU) und zur Eröffnung des Kurdischen Filmfestivals am 13. 10. um 19 Uhr im Babylon Mitte)

Die Vertreibung aus dem Kindheitsparadies, in dem sich ein Junge nichts mehr wünscht als einen Fernseher, um endlich „wie die Stadtkinder“ Cartoons gucken zu können, geschieht in „Nachbarn“ ganz leise. Khalil inszeniert Seros Kinderblick auf die politischen Entwicklungen ohne Naivität. Und wenn die alten Dorfzausel Sonnenblumenkerne kauend in der Gegend herumsitzen, liegt Waldorf-und-Statler-Komik in der Luft. „Hier wachsen keine Palmen, zu kalte Winter“, sagt Seros Großvater (Ahmed Zirek) dem Lehrer, als der ein Exemplar des „arabischen Nationalsymbols“ herankarren lässt.

Dass die Nachbarschaftstreue zwischen der kurdischen und der jüdischen Syrerfamilie dann doch stärker als alle gewalttätigen Bedrohungen ist, fällt in „Nachbarn“ betont didaktisch aus. Mano Khalils Botschaft ist zutiefst human. Sie traut den persönlichen Beziehungen und dem Anstand unter Menschen mehr zu als ihrer Einbindung in kulturelle oder politische Systeme. Und so wird Sero seine Freundin Hannah tatsächlich wiedersehen. Jahrzehnte nachdem ihr die Flucht aus Syrien gelang. Am Rande eines Flüchtlingscamps von heute. Ein rührendes, brüchiges Happy End.

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