DDR-Fernsehkritiken im Tagesspiegel: Uwe Johnsons tägliche Schreibübungen

Am 4. Juni 1964 kündigte der Tagesspiegel auf seinen Seiten 3 und 4 etwas Besonderes, für das geteilte Berlin fernsehpolitisch Bedeutsames an. Unter der Überschrift „Die Mauer und das Ost-Fernsehen“ erklärten die Herausgeber auf der Seite 3, warum der Tagesspiegel von diesem Tag an das Fernsehprogramm der DDR abdrucken und auch Produktionen des Ost-Fernsehens besprechen lassen werde. Den Rezensenten, den der Tagesspiegel dafür verpflichtet hatte: der Schriftsteller Uwe Johnson, der 1959 aus der DDR nach West-Berlin gekommen war und sich mit seinem Debütroman „Mutmaßungen über Jakob“ und „Das dritte Buch über Achim“ als Suhrkamp-Autor einen Namen gemacht hatte.
Johnson schrieb dann auf der Seite 4, warum er diese Aufgabe übernommen hatte, unter anderem „aus Interesse an der Umgebung der Stadt West-Berlin, mit der sie früher eins war; aus Interesse an den Veränderungen dieser Umgebung.“ Zu Beginn seiner Arbeit nahm er sich eine Ausgabe von Eduard von Schnitzlers „Schwarzem Kanal“ vor. Darin ging es um Franz Josef Strauß und wie sehr sich von Schnitzler vor diesem ekelte, als „skrupellos und ohne Scham“ empfand er den bayrischen Politiker. Johnson schloss seinen Text jedoch so: „Aber die Frisur war nicht ohne Eleganz gelegt.“
Ein halbes Jahr lang sollte Johnson Besprechungen abliefern, so war es Ende Mai 1964 mit der Feuilleton-Redaktion des Tagesspiegels besprochen worden, für ein „monatlich im voraus zu entrichtendes Pauschalhonorar von 1000 DM“, wie Herausgeber Franz Karl Maier in einem Brief an Johnson schrieb. 99 Artikel wurden es bis zum 3. Dezember, da Johnson den zweiten Teil eines Krimis rezensierte, von ihm „Neo-Western“ genannt: „Weniger der Westen selbst, als vielmehr ein wunschtraumhaftes, phantastisches Bild von diesem Westen ist naturgemäß für kriminalistische Erfindungen die saftigste Spielwiese.“
„Der Fall Gleiwitz“
Johnson stellte sich die „stilistische Aufgabe, für jeden Schreibvorwurf einen eigenen Gestus zu erfinden“, und so kennt er denn auch keine Vorlieben, sondern widmet sich kreuz und quer den unterschiedlichsten Formaten des DDR-Fernsehens und deren Eigentümlichkeiten, von „Du und die Chemie“ („eine Retorte, die sich so lange in Krämpfen windet, bis daraus der Umriss des ostdeutschen Staats entsteht“) über das Quiz „Kreuz und Quer“ („solche Ratespiele … sind dem Publikum der westlichen deutschsprachigen Gebiete wohl zu empfehlen“) bis zu dem Defa-Film „Der Fall Gleiwitz“ („verdient Aufmerksamkeit“).