Die Entdeckung des Familiensinns
Beide sind sympathische Exzentriker und Subjektivisten, Virtuosen, Ausdrucksberserker. Beide kommen aus Nischni Novgorod, beide wurden blutjung fast über Nacht berühmt und sind seit gut zehn Jahren Klavierstars: der als extrovertiert geltende Igor Levit (Jahrgang 1987) und der längst für seine Introvertiertheit legendäre Daniil Trifonov (Jahrgang 1991).
Und beide lieben lange Werke, Variationssätze, Zyklen: weil sie Weltreisen ermöglichen, schier unendliche Universen eröffnen.
Wobei Trifonov bisher vor allem die Spätromantik erkundet hat, Rachmaninow, Liszt, Skriabin, Prokofjew. Ein Eremit, der über den Tasten kauert, das Publikum mit donnerndem Anschlag heimsucht und gleich nach dem letzten Ton davonhuscht, als seien die Konzertbesucher eine unangenehme Nebenwirkung, die in Kauf nehmen muss, wer sich in aller Öffentlichkeit kompromisslos in ein Werk versenken will: Mit Trifonovs Image verhält es sich wie mit dem von Levit, besagt es doch wenig über die Musik, um die sie jeweils am Flügel ringen.
Jetzt hat sich Trifonov Johann Sebastian Bach und dessen radikalstes, rätselhaftestes, als mathematisch-sperrig geltendes Werk vorgenommen, die gut 70-minütige „Kunst der Fuge“. Sogar die Abfolge der Stücke und die Instrumentierung sind dabei den Interpreten überlassen – vom Umgang mit dem unvollendeten Schluss zu schweigen.
Der Pianist bleibt sich treu: Auf dem soeben erschienenen Doppelalbum „Bach: The Art of Life“ und beim Recital in der Philharmonie würdigt Trifonov den Romantiker im Kontrapunktiker Bach. Was eine gewisse Logik hat, schon die erste große Bach-Renaissance fand ja in der Romantik statt.
Dem schlichten Fugen-Thema nähert sich Trifonov mit Scheu und Hingabe
Gleich das schlichte, eine Quint umspielende zwölftönige d-moll-Thema legt er als Reverie an, im Konzert noch mehr als auf der CD. Dem Urstoff der 14 Fugen-Variationen nähert er sich voll träumerischer Hingabe, und beinahe scheu. Kein Huster, kein Rascheln, so mucksmäuschenstill ist es selten im Scharoun-Bau. Die fein gezackten punktierten Achtel des 2. Contrapunctus wecken Assoziationen an nervös zuckende Nervenenden, in Nr. 4 malt er pointillistische Bilder, in Nr. 7 und 11 verdichtet er Bachs harmonische Kühnheiten fast bis zum Cluster.
[Erschienen ist Daniil Trifonovs Doppelalbum „Bach: The Art of Life“ mit Werken von J. S. Bach und den Söhnen Johann Christoph, Wilhelm Friedemann und Carl Philipp Emanuel Bach bei der Deutschen Grammophon]
Ob ziselierte Staccati, irisierende Klangnebel oder trotzige Gegenreden, nie verwischt Trifonov die Konturen, bei aller Flüchtigkeit der Gestalten, dem leicht drängelnden Tempo, gelegentlichen Rubati und verdoppelten Bässen. Bach als Meister der Empfindsamkeit – die Epoche war eigentlich seinen Söhnen vorbehalten, mit deren Kompositionen Trifonov auf dem Album die „Kunst der Fuge“ umgibt. Auch in der Philharmonie erweist er sich am Ende überraschend als leidenschaftlicher Familienmensch, als er mit drei Zugaben von Johann Christian, Wilhelm Friedemann und Carl Philipp Emanuel Bach im Vater den Wegbereiter seiner Sprösslinge ausmacht.
Trifonov ist überzeugt, dass Bach seine Söhne zur Individualität ermutigt hat
Erst kürzlich ist der Pianist selber Vater geworden. Von wegen Eremit: Im aktuellen Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen“ stellt er die CD-titelgebende „Kunst des Lebens“ in direkten Zusammenhang mit den musikalischen Künsten, er glaubt fest an den Bach’schen Familiensinn.
Die Söhne waren nicht „vatergeschädigt“, sie wuchsen nicht in einer toxischen Atmosphäre auf, so Trifonov. Vielmehr habe Johann Sebastian jeden von ihnen „zu dessen eigener Individualität ermutigt“. Im Konzert wie auf dem Album liefert er gleichsam den klingenden Beweis, sind die Zugaben doch denkbar unterschiedlich, von melancholisch gefärbter Heiterkeit bis zum subtilen Humor C. P. E. Bachs.
Ein Jahr brauchte Trifonov, um die „Kunst der Fuge“ auswendig zu lernen. Und mehr als das: Seine luzide Anschlags- und Phrasierungstechnik nutzt er für unaufhörliche Charakter-Metamorphosen des Urmotivs, für Transparenz und Transzendenz.
Wie von Zauberhand verwandelt er hypnotisch innige Passagen in derbere Texturen und wieder zurück, Gestalten manifestieren sich, verflüssigen sich, formen sich neu. Dem Thema der jeweiligen Doppel-, Tripel- oder Spiegelfuge kann man dabei immer mühelos folgen. Es ist, als ob man einem Menschen beim Denken zusieht.
Er traut sich sogar, für die unvollendete Quadrupelfuge einen Schluss zu komponieren
Begonnen hatte der Abend mit Bachs Chaconne aus der d-Moll-Partita für Violine, in der Klavierbearbeitung für die linke Hand (die Brahms für Clara Schumann anfertigte, sie hatte ihre rechte Hand überanstrengt). Da war er zunächst, der Starpianist mit dem ehernen, unerbittlichen Fortissimo. Hier sitze ich und kann nicht anders, es ist mir ernst, so die Botschaft. Wie Daniil Trifonov dann aus den finalen Basstönen und der gespannten Stille danach beinahe unmerklich die „Kunst der Fuge“ hervorlockt, ist eine beglückende Erfahrung.
Ebenso beglückend ist es, als er sich traut, für Bachs unvollendete Quadrupelfuge nach dem B-A-C-H- Signet in aller Demut ein paar Schlusstakte zu komponieren und zum Ausklang eine Choralbearbeitung von „Jesus bleibet meine Freude“ anzustimmen, wieder im nahtlosen Übergang. Der Wiegerhythmus des Ritornells, tröstende Triolen: Schöner kann sich ein vermeintlicher Individualist kaum zur Gemeinschaft bekennen.