Schieß mir die silberne Kugel in den Kopf
Eine Mutter warnt ihr Kind: Pass auf, ich bin ein Werwolf mit langen scharfen Zähnen. Nachts ziehe ich durch die Straßen und heule den Mond an. Wenn ich einmal durchdrehen sollte, versprich mir bitte, dass du mich mit der silbernen Kugel aus meinem Gewehr niederschießen wirst.
Was Brandi Carlile hier in ihrem neuen Song „Mama Werwolf“ zum Vortrag bringt, gehört ganz sicher zu den ungewöhnlichsten Mutter-Kind-Texten, die man seit einer Weile gehört hat. Dass ihr Gesang überdies von einem schwungvollen Country-Arrangement angetrieben wird, zu dem man sofort ein lockeres Tänzchen auf den Saloon-Boden legen möchte, steigert die Irritation noch.
Sechs Grammys gewann sie 2019
Aber Brandi Carlile ist eben auch nicht das Standard-Modell eines Countryrock-Stars, sondern eine der treibenden Kräfte der erstaunlichen Transformation, die dieses als Redneck-Bastion verschrieene Genre in den letzten Jahren durchgemacht hat. Denn mittlerweile finden dort auch verstärkt afroamerikanische Künstlerinnen wie Mickey Guyton, Miko Marks oder Amythyst Kiah Gehör.
Die Karriere des schwulen Cowboys Orville Peck und der Erfolg von Lil Nas Xs Country-Trap-Hit „Old Town Road“ sind weitere Zeugnisse einer Entwicklung zu mehr Diversität, die auch von der offen lesbischen Brandi Carlile vorangetrieben wird – nicht zuletzt mit dem rein weiblichen All-Star-Quartett The Highwomen.
In den USA ist die 40-Jährige, die in armen Verhältnissen aufwuchs, ein Star. Spätestens seit dem Jahr 2019, als sie mit ihrem Album „By The Way I Forgive You“ sechs Grammys gewann. Einen davon bekam sie für die hymnische Ballade „The Joke“, die sich gegen das Mobbing von gendermäßig unangepassten Jugendlichen richtet. Zu Klavier- und Streicherbegleitung spielt Brandi Carlile im Refrain den beeindruckenden Umfang ihrer Stimme aus. Der englische Begriff power house trifft es sehr gut. Sie hat eine Wucht, der man sich kaum entziehen kann.
Das demonstriert Carlile auch auf ihrem am Freitag erscheinenden siebten Album wieder, das mit einem an „The Story“ erinnernden Stück beginnt, wobei sie die Dramatik von „Right On Time“ durch ihr Gesangsvibrato sowie den Einsatz von E-Gitarren im Refrain noch um einige Grade steigert. Das passt zum Text, denn der beschreibt eine Beziehungskrise: „It’s not too late/ Either way, I lose you in these silent days/ It wasn’t right / But it was right on time“.
[„In These Silent Days“ erscheint am 1.10. bei Low Country Sound/Warner]
Mit den stillen Tagen, die dem Album seinen Titel „In These Silent Days“ gegeben haben, dürfte die Lockdown- Zeit gemeint sein, in der die zehn neuen Stücke entstanden sind. Geschrieben und aufgenommen hat Carlile sie wie immer zusammen mit den Zwillingen Tim und Phil Hanseroth. Seit Carliles Teenagerzeit sind die beiden ihre musikalischen Partner – und inzwischen auch ihre Mitbewohner auf einem großen Anwesen in einer ländlichen Gegend des US-Bundesstaates Washington, auf dem Carlile mit Ehefrau Catherine Sheperd und zwei Töchtern lebt.
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Und so klingt die Platte denn sofort nach dem vertrauten Mix aus Folk, Country und Rock. Mal etwas intensiver wie beim Opener, der auch die erste Single war, oder dem markigen „Broken Horses“ (zugleich Titel ihrer kürzlich erschienen Autobiografie), dann wieder reduziert-intim wie bei „When You’re Wrong“, einer von Melancholie durchzogenen Akustikgitarren-Ballade oder dem bitteren „Throwing Good After Bad“, dessen ersten Zeilen lauten: „I know you’re leaving me/ I know I’m not your home“. Man kann nur hoffen, dass das lyrische Ich weit entfernt ist von Brandi Carliles eigenem Leben.
Für Zuhörende, deren Beziehung die Pandemie nicht überstanden hat, dürfte das nur von einem verhallten Klavier und einem Cello begleitete Trennungslied einiges Identifikationspotential haben. Brandi Carlile legt so viel Wehmut in diesen Schlusssong ihres Albums, dass man glatt losheulen könnte. Weil sie ganz ohne Kraftmeierei auskommt, steigert sich diese Wirkung noch. Perfekte Herbstmusik, seufz.