Kiew, Stadt der Angst

Seit ein paar Tagen sieht Samson Teofilowitsch Koletschko die Welt ein wenig röter, als sie ist. Wenn er in der Kirche in eine brennende Kerze schaut, sieht er ein rotes Glimmen. Dabei weiß er, dass ihre Flamme gelblich ist. „Ach, herrje“, sagt sein Arzt.

Der entdeckt Blut in Samsons Auge und ein Stückchen Hirn, an der Hornhaut angetrocknet. Beides stammt von Samsons Vater, der von einem Kosaken der Roten Armee mit einem Säbelhieb erschlagen worden war. Der nächste Schlag hatte Samsons rothaarigen Kopf getroffen und sein rechtes Ohr abgetrennt. Beim Arzt ist er eigentlich, um die Wunde versorgen zu lassen. Blut und Hirnstück lassen sich entfernen.

Die Welt wird rot

Die Welt wird langsam rot, das gilt jedenfalls für das Kiew des Jahres 1919, in dem Andrej Kurkows Roman „Samson und Nadjeschda“ spielt. Als es eine einzige Macht gab, schreibt der ukrainische Schriftsteller, „schien das Leben banal, verständlich und gewohnt“. So war das unter dem Zaren und zeitweilig auch während der deutschen Militärverwaltung.

Nun herrscht Bürgerkrieg, mehrere Mächte bekämpfen einander. Vorerst sehen die Bolschewiki wie Sieger aus, sie haben die Stadt besetzt, allerdings bleibt ihre Herrschaft fragil. Der Geruch von verbrannten Pulver wird vom Gestank der Müllhaufen abgelöst, die der Frühling am Straßenrand auftaut. Endgültig sowjetisch ist Kiew erst zwei Jahre später.

Dass Körperteile ein Eigenleben entwickeln können, kennt man aus Gogols Erzählung „Die Nase“, in der ein Riechorgan auf dem Newski-Prospekt in Sankt Petersburg spazieren geht. Samson war geistesgegenwärtig genug, sein abgeschlagenes Ohr aufzufangen, um es später in eine Schachtel zu stecken und im Schreibtisch zu verwahren.

So hört er, wie zwei Rotarmisten, die sich in seiner Wohnung einquartiert haben, überlegen, ihn umzubringen. Das Ohr wird ihm weiter gute Dienste leisten, nachdem er bei der neuen sowjetischen Polizei angeheuert hat. Ein ungewöhnlicher Karriereschritt für ein Opfer roter Gewalt, aber genommen wird Samson, weil er in einem Rapport gegen die Beschlagnahme von Möbeln protestiert. „Sie können schreiben“, konstatiert sein Vorgesetzter Nadjen.

Stoisch standhalten

„Samson und Nadjeschda“ ist nicht nur ein Kriminal-, sondern auch ein Schelmenroman. Samson – nach dem Tod des Vaters ein Waise – rettet sich durch jedes Schlamassel, weil er alle Umbrüche stoisch über sich ergehen lässt. Er könnte ein entfernter Verwandter des braven Soldaten Schwejk sein, nur weniger geschwätzig. „Ich werde für die Ordnung kämpfen“, lautet sein schlichtes Berufsethos. Außerdem erhält er als Polizist Essenmarken für die Gemeinschaftsküchen, wo es zur Suppe auch noch Brot gibt.

Samsons Desinteresse an der Politik unterscheidet ihn von Nadjeschda, mit der ihn die Witwe seines Hausmeisters verkuppeln will. Wäre gar nicht nötig, weil er sich sowieso in sie verliebt. Nadjeschda arbeitet in der Statistikbehörde des Gouvernements und trägt eine moderne Kurzhaarfrisur.

Zukunftsmenschen sind bescheiden

Ihr Standpunkt: „Ich versuche ein Beispiel des künftigen Menschen zu geben.“ Entschieden, fleißig und bescheiden sollen die Zukunftsmenschen sein, was auch Personen einschließt, die aus dem vergangenen Leben stammen. Wogegen wenig einzuwenden wäre.

Samson heißt Samson, weil seine Eltern sich einst am Samson-Brunnen kennenlernten. „Hätte es ihn nicht gegeben, dann hätte es mich auch nicht gegeben“, sagt er, als er Nadjeschda dorthin ausführt. „Wie rührend!“, entgegnet sie, „Sie sind ein Schatz“. Samson, der auf dem Brunnen das Maul eines Löwen aufreißt, galt als unbesiegbar, was sich als Irrtum erwies. Kurkows Samson verfügt nicht über solche Körperkräfte, seine größte Stärke ist die Hartnäckigkeit.

[Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda. Roman. Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing. Diogenes, Zürich 2022. 365 Seiten, 24 €]

Die zaristischen Kriminalbeamten sind gefeuert worden, aber auch die Macht der neuen Miliz beruht auf Bürokratie. Weil es an Papier mangelt, müssen die Ermittler auf den Rückseiten alter Akten schreiben. Seinen ersten Fall bringt Samson ins Rollen, indem er eine Anzeige an die eigene Kriminalabteilung richtet und von seinem Chef unterschreiben lässt.

Es geht um Anton und Fjodor, die Rotarmisten aus seiner Wohnung. Sie haben zwei Säcke mit Diebesgut angeschleppt, darunter einen Silberknochen und Schnittmuster aus einer Schneiderwerkstatt in seltsamen Größen.
Kiew ist eine Stadt der Angst. Es empfiehlt sich, nachts das Haus nicht zu verlassen und die Türen fest zu verriegeln.

Mit Blut sühnen

Dann ist auf den Straßen der harte Marschtritt von Armeestiefeln zu hören, Geheimdienstwagen werfen gelbliches Scheinwerferlicht auf Fassaden. Tschekisten streiten darüber, wer die Feinde des Proletariats am besten erschießt, mit Händen, die nicht zittern. Im Fall der beiden Rotarmisten, die das Requirieren übertrieben haben, ist klar, dass sie ihre Tat „mit Blut sühnen“ müssen.

Gewalt ist allgegenwärtig, sie kommt aus dem Nichts und kann jeden treffen, so wie Samsons Vater. Die Willkürlichkeit des Todes ist der größte Schrecken.

Es fällt schwer, beim Lesen nicht an die heutige Situation in Kiew zu denken und an die Bomben und Raketen, die dort einschlagen. Andrej Kurkow hat in Interviews erzählt, dass er derzeit keine Literatur schreiben kann, weil er damit beschäftigt ist, Texte zum Krieg zu produzieren. Samson hat eine Fortsetzung verdient. Wir hoffen auf eine Zeit, in der Kurkow sie schreiben wird.