Festivalleiter Ricardo Carmona: „Ich kann nicht an Europa denken, ohne an den Rest der Welt zu denken“

Ricardo Carmona, Sie waren mehr als zehn Jahre Kurator für Tanz am HAU und haben nun die Leitung vom Tanz im August übernommen. Wird das Festival eine Fortsetzung des HAU-Programms sein – nur mit größerem Budget?
Ein Festival hat eine andere Logik und wendet sich an ein teilweise anderes Publikum als ein Haus. Außerdem bespielen wir bei Tanz im August unterschiedliche Bühnen in der Stadt. Ich habe für mich eine Aufstellung gemacht: Künstler:innen, mit denen ich schon am HAU gearbeitet habe, machen rund 40 Prozent aus. Rund 30 Prozent wurden schon bei Tanz im August präsentiert. 30 Prozent sind zum ersten Mal beim Festival zu sehen. Ich glaube, das ist eine gute Kombination.

Sie bauen einerseits auf Kontinuität und setzen zugleich neue Akzente. Welche Linien verfolgen Sie in Ihrem Programm?
Ich beobachte, dass gerade ein Generationswechsel in der Tanzszene stattfindet. Es gibt einige Choreograf:innen, die bereit sind, Arbeiten für die größere Bühne zu kreieren, wenn man ihnen die Chance gibt. Die neue Ästhetiken entwickeln und neue Publikumsschichten erreichen können – wie beispielsweise Marco da Silva Ferreira oder das Ballet national de Marseille / (LA) Horde, die wir in diesem Jahr präsentieren.

Der portugiesische Choreograf Marco da Silva Ferreira eröffnet mit „C A R C A Ç A“ das Festival. Mixt er in dem Stück unterschiedliche Tanzstile?
Marco da Silva Ferreira ging von der Frage aus: Wie kann Folklore heutzutage auf Bühnen aussehen? Er zitiert Brauchtumstänze aus Portugal, Tänze, die von Gemeinschaften der Ex-Kolonien praktiziert werden, und Elemente des Street Dance. All das kombiniert er auf clevere Weise.

Sie haben von 2010 bis 2012 für das Alkantara Festival in Lissabon gearbeitet. Haben Sie sich da bereits mit postkolonialen Fragestellungen auseinandergesetzt?
Das war schon immer Teil meines Denkens über Tanz und Performance. Wenn man diese Fragen im Kopf hat, macht man ein anderes Programm. Ich setze das nun beim Tanz im August fort.

Das Stück von Nadia Beugré ist eine ausgelassene Party und reflektiert zugleich über Ausgrenzung.

Festivalleiter Ricardo Carmona

Choreograf:innen vom afrikanischen Kontinent sind diesmal stark vertreten beim Festival. Wollen Sie unseren eurozentristischen Blick erweitern?
Ich kann nicht an Europa denken, ohne an den Rest der Welt zu denken. Auch das Thema Diaspora hat mich sehr beschäftigt. Damit meine ich Künstler:innen, die in verschiedenen Ländern leben. Serge Aimée Coulibaly ist ein gutes Beispiel. Er leitet ein Tanzzentrum in Burkina Faso und unterstützt dort die lokale Szene. Er hat aber auch eine Homebase in Brüssel. Ein anderes Beispiel ist Nadia Beugré, sie wurde in Côte d’Ivoire geboren und lebt heute in Frankreich.

Für ihr Projekt „Prophétique“ holt Nadia Beugré trans Personen auf die Bühne. Wie kam das Projekt zustande?
Nadia hat in Abidjan trans Frauen getroffen. Tagsüber arbeiten sie in Friseursalons, auf der Straße werden sie schikaniert und verspottet. Aber nachts in den Clubs verwandeln sie sich in Diven. Nadia hat diese Spaltung interessiert. Sie hat ein Casting gemacht und dann zusammen mit den Performer:innen die Dramaturgie entwickelt. Das Stück ist eine ausgelassene Party und reflektiert zugleich über Ausgrenzung.

Sie präsentieren auch zwei Choreografen aus Nordafrika.
Wenn wir von zeitgenössischem Tanz sprechen, meinen wir meistens den westlichen Tanz. Es gibt aber andere Abstammungslinien, die ich aufzeigen möchte. Taoufiq Izeddiou etwa ist beeinflusst von Trance-Tänzen, wie sie in Ritualen einer Sufi-Bruderschaft im Süden Marokkos praktiziert werden. Auf dieser Basis entwickelt er seine eigene Choreografie. Radouan Mriziga hat sich mit der Amazigh-Kultur in Nordafrika beschäftigt, die durch Tanz, Gesang und Geschichten weitergegeben wird.

Mehrere große Produktionen stehen auf dem Programm. Wurde die Zusammenarbeit mit den Berliner Festspielen vertieft?
Es ist eine neue Form der Kollaboration. Ich habe dem neuen Intendanten Matthias Pees vorgeschlagen, dass wir ein Projekt gemeinsam präsentieren. Die Wahl fiel auf Trajal Harrell; die Festspiele haben sein Stück „The Romeo“ koproduziert, und wir waren auch an der Arbeit interessiert. Ich bin glücklich, dass Trajal dabei ist.

Wir haben die Kompanien aus Belgien oder Frankreich gebeten, den Zug zu nehmen – sie haben akzeptiert.

 Festivalleiter Ricardo Carmona

Der Fokus liegt diesmal stark auf dem auf Thema Ökologie. Wie grün wird dieser Tanz im August?
Das Thema Klimawandel ist notwendigerweise sehr präsent. Aber neben dem wissenschaftlichen Diskurs brauchen wir noch etwas anderes: Imagination. Da kommt die Kunst ins Spiel. Das Thema ist aber noch nicht richtig angekommen in der Tanzszene.

Deswegen wollte ich einen Impuls geben, damit sich mehr Choreograf:innen damit beschäftigen. Beim Projekt „Tanz & Ökologie vernetzen“ sind 22 kurze Choreografien von Berliner Künstler:innen an drei Samstagnachmittagen in drei Berliner Parks zu erleben. In jedem Park gibt es einen speziellen Parcours und das Publikum kann kostenlos teilnehmen.

Was haben Sie unternommen, damit das Festival nachhaltiger wird?
Es ergibt keinen Sinn, Stücke über Ökologie zu zeigen, wenn wir nicht auch die Struktur des Festivals verändern. Auch im Kontext des gesamten HAU Hebbel am Ufer gibt es schon Bestrebungen in eine ähnliche Richtung. Ein Punkt ist zum Beispiel: Unser Team versucht, für Dienstreisen mit bis zu acht Stunden Reisezeit den Zug zu nehmen.

Für mich bedeutet das, dass ich in den letzten Monaten viel Zeit im Zug verbracht habe. Bei der aktuellen Situation der Deutschen Bahn können Reisen dadurch sehr lang werden! Wir haben auch die Kompanien, die aus Belgien oder Frankreich anreisen, gebeten, den Zug zu nehmen – sie haben akzeptiert. Ein anderer Punkt betrifft die Printprodukte: Diese wurden auf nachhaltigem Papier und mit giftfreien Farben hergestellt.