Lustwandeln mit Clara

„Johannes kam heute Abend und spielte mir den ersten Satz seiner 2. Symphonie vor, der mich hoch entzückte“, notiert Clara Schumann in ihrem Haus in Lichtental bei Baden-Baden am 3. Oktober 1877 in ihr Tagebuch. Sie prophezeit dem Werk „durchschlagenden Erfolg“ – und sollte recht behalten. Seit der Uraufführung am 30. Dezember 1877 in Wien ist das lichte Werk Brahms’ beliebteste Symphonie geblieben.

Wenn nun das Festspielhaus Baden-Baden die Interpretation von Brahms Zweiter mit dem Chamber Orchestra of Europe unter Yannick Nézet-Séguin auf Großbildleinwand in den Klosterhof der Cistercienserinnen-Abtei Lichtental überträgt, dann kehrt die Symphonie an ihren Ursprungsort zurück.

Musikalisch hat der kanadische Dirigent den Anspruch, historischen Ballast abzuwerfen und den Kern der Komposition freizulegen. Dafür hat er die Streicherbesetzung verschlankt: also kein dunkler, schwerer, deutscher Klang, sondern Transparenz, helle Farben und deutlich artikulierte Phrasierungen.

Der behutsam musizierte Beginn des Kopfsatzes erinnert an einen Sonnenaufgang; die Holzbläser müssen nicht forcieren, um gehört zu werden. Der großartige Solohornist Martin Schöpfer lässt sein Instrument singen. Aber auch das Brodeln unter der strahlenden Oberfläche ist zu spüren.

Aus dem Adagio macht Nézet-Séguin ein kammermusikalisches Juwel, der dritte Satz klingt in den duftigen Streichern nach Mendelssohn. Im Finale lässt der Dirigent die Leinen los und führt die Symphonie mit strahlendem Blech zu einem triumphalen Ende, bevor er zu den Ovationen des Publikums vor dem Orchester auf die Knie fällt.

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Zuvor hatte die italienische Pianistin Beatrice Rana Robert Schumanns Klavierkonzert klanglich veredelt und einen Bogen gespannt zwischen nach innen gerichteter Sehnsucht zu Beginn und extrovertierter Virtuosität im Finale. Auch bei ihrer Interpretation des von Clara Schumann 1845 in Dresden uraufgeführten Konzertes ist in den waghalsigen Akkordbrechungen jeder Ton hörbar.

Die Schumanns hatte der 20-jährige Brahms 1853 in Düsseldorf kennengelernt. Da hatte die 14 Jahre ältere Clara schon sechs Kinder. Mit dem enthusiastischen Aufsatz „Neue Bahnen“ machte Robert Schumann Johannes Brahms schlagartig bekannt. Wenige Monate später stürzte sich Schumann dann in den Rhein und verstarb zwei Jahre danach in der Nervenheilanstalt Endenich.

Die Liaison zwischen Clara Schumann und Johannes Brahms ist ein Stück lokale Musikgeschichte

Clara Schumann wurde für Brahms zur „innigst geliebten Freundin“. Und sie war auch der Grund, warum er sich von 1865 bis 1876 fast jeden Sommer in Lichtental einmietete, im heutigen „Brahms-Haus“, nur ein paar hundert Meter entfernt von Clara Schumanns Domizil. Auf Spaziergängen ließ er sich Melodien einfallen, wie er in Briefen berichtet. Seine Kompositionen zeigte er zuerst Clara.

Die Sommerfestspiele „La Capitale d’ Été“ (Die Sommerhauptstadt) machen diese lokale Musikgeschichte vor Ort erlebbar, der Brahms-Zyklus wird im nächsten Jahr fortgesetzt. Sechs Festivals gibt es inzwischen in der von Intendant Benedikt Stampa neu strukturierten Festspielhaus-Saison, die Sommerfestspiele setzen dabei thematisch auf das 19. Jahrhundert in Baden-Baden – und auf Yannick Nézet-Séguin.

[Ein Mitschnitt des zweiten Konzerts des Chamber Orchestra of Europe mit Beatrice Rana ist auf der Website von Arte Concert abrufbar.]

Damit ist die Stadt der einzige europäische Ort, an dem der musikalische Direktor der New Yorker Met und des Philadelphia Orchestra zwei Wochen am Stück zu erleben ist. Hier sitzt der charismatische, energiegeladene Dirigent auch mal am Klavier und spielt, beseelt und differenziert, mit Beatrice Rana Brahms’ Walzer für vierhändiges Klavier. Brahms war ein großer Walzerliebhaber und besuchte gerne die Konzerte von Johann Strauß im Kurpark von Baden-Baden.

Seine erste Symphonie, die die Sommerfestspiele eröffnete, wurde ebenfalls in Baden-Baden vollendet. Nézet-Séguin arbeitet mit dem Chamber Orchestra of Europe das Kämpferische dieses Werkes heraus, an dem der Komponist 16 Jahre geschrieben hat. Auch hier wird die Verwobenheit der Motive deutlicher hörbar als gewöhnlich. Und wenn zum Schluss das Alphornthema – mit dem der Komponist einst Clara auf einer Postkarte aus dem Alpenurlaub grüßte – die Konflikte des Finales löst, wäre vielleicht auch die verehrte Freundin, die das Werk kritisch sah, damit versöhnt worden.

Ihr im Alter von 16 Jahren komponiertes Klavierkonzert ist in der farbenreichen Version von Beatrice Rana zu erleben. Das an Chopins Style brillant erinnernde Finale hat Eleganz und Raffinesse. Mit Clara Wieck-Schumann und Louise Farrenc in der zweiten Festivalwoche werden bei den Sommerfestspielen Baden-Baden auch Komponistinnen neu entdeckt.