Der Bundesadler tanzt aus der Reihe

Den Fehler im System hat sie gleich entdeckt. Amüsiert schreitet Bärbel Bas die Reihe der „Ordner“ ab, auf deren Rücken der Bundesadler prangt. Traditionell dreht das Wappentier den Kopf nach rechts. In der sechsteiligen Papiercollage von Marion Eichmann tanzt einer aus der Reihe, blickt nach links. Der „protokollarisch etwas unartige Bundesadler“ sei ihr Favorit, sagt Bundestagspräsidentin und SPD-Politikerin Bas zur Eröffnung der Ausstellung „Sight.Seeing Bundestag. Ein Jahr in der Herzkammer der Demokratie“.

Der Ort habe ihr zunächst enormen Respekt eingeflößt, gesteht die Künstlerin, die seit 1993 in Berlin lebt, wo sie zunächst an der Universität der Künste und später an der Kunsthochschule Weißensee studiert hat. „Ich filtere meine Inspiration aus der Umgebung. Wie ein Kameraauge – ohne Wertung und ohne Hierarchie. Dazu musste ich mich erst einmal von dieser Ehrfurcht frei machen und auch die Politik ausblenden.“

Hinter den Kulissen des Parlaments

Da wirkt eine kleine Collage, die die Westfassade des Reichstagsgebäudes als schwarze Silhouette zeigt, wie ein Tor zum Aufbruch hinter die Kulissen des Parlaments, eine gewöhnliche verschlossene Welt. Das Gefühl von Fremdsein und Verlorenheit in der weitläufigen Architektur hat Eichmann mittels Laufen abgeschüttelt – anfangs rund elf Kilometer täglich durch die vier Parlamentsgebäude.

Sie schaute in die versteckten Ecken und Winkel der Politmaschinerie, nahm Alltägliches und Gewöhnliches in den Fokus. Scheinbar Beiläufiges wie den Fensterputzer am haushohen Rundfenster des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses, die Gegensprechanlage mit dem filigranen Logo der „Polizei“ oder den „Defibrillator“, der dem Herzkammer-Pathos eine ironische Note entgegensetze. Bitte bei Herzrhythmusstörungen in diesem Hohen Haus im Notfall entnehmen.

Wenngleich Eichmann mit ihren filigran gearbeiteten Papierschnitten gerne ins große Format geht und vor überwältigenden Motiven nicht zurückschreckt, Pathos liegt ihr fern. Vielmehr vermag die Technik, mit der – sie Papierschnitt, Collage und Relief verknüpfend – ihre dreidimensionale Malerei und Zeichnung entwickelt hat, die Sicht auf das sattsam Bekannte zu unterminieren.

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Wie vom Wind aufgestöbert flattern die Gläser der Reichstagskuppel im großformatigen Papierschnitt „Kuppel“. Aufgefächert in millimeterfeine verflochtene Linien, die ein eigenwilliges Flirren auslösen. Leichtigkeit und Transparenz betonend und zugleich den Eindruck erwecken, als hätte das mittlerweile zum Wahrzeichen gewordene Bauwerk Risse bekommen.

Fragil erscheint das demokratische Gefüge ebenso, wenn die Federn des Bundesadlers im Plenarsaal wie Stacheln hervorstechen oder vor die Graphitzeichnung des Westportals mit dem Schriftzug „Dem deutschen Volke“ rot-weiße Absperrgitter collagiert sind.

Tiefer Stachel ins Fleisch der Politik?

Während das Repräsentative durch das Verrücken eines Fassadenvorsprungs oder das Fragmentieren einzelner Motive über mehrere Rahmen brüchig wirkt, verwandelt Eichmann das Unspektakuläre und Banale in maßstabgetreue Objekte. So täuschend echt, dass man fast wieder daran vorbeiläuft. Wäre da nicht diese Materialität und taktile Präsenz, die einem schlichten Lageplan, einem Ruhehinweis oder den Exit- und Straßenschildern Charme und Witz verleihen.

Einen tiefen Stachel ins Fleisch der Politik setzt Eichmann nicht, doch die subtilen Verschiebungen von Wirklichkeits- und Deutungsebenen eröffnen überraschende Perspektiven. Für die Besucher:innen ebenso wie für die Bundestagsmitglieder, in deren Auftrag der Kunstbeirat agiert.

1995 aus der Ende der 70er- Jahre gegründeten Kunstkommission hervorgegangen, entscheidet das paritätisch aus allen Parteien besetzte Gremium über Kunst-am-Bau-Projekte und Ausstellungen des Bundestags sowie über die Sammlung zeitgenössischer Kunst mit den Ankäufen für die Artothek – die den Abgeordneten und Mitarbeiter:innen Leihgaben für ihre Büros zur Verfügung stellt.

[Bis 11. September; Anmeldungen unter: www.kunst-im-bundestag.de]

Seit 2015 werden zudem Aufträge an Künstler:innen vergeben, die sich mit Geschichte und Gegenwart des Parlaments auseinandersetzen. Das reicht von einem Kurzfilm, in dem Juliane Ebner die biografisch inspirierte Geschichte einer Familie zwischen Kriegsende und Mauerfall erzählt, bis zu Simon Schwarz’ Comic-Porträts von Parlamentarier:innen der ersten Generation.

„Wir entwickeln die Ausstellungen aus der Logik der Sammlung heraus“, sagt Kristina Volke, stellvertretende Leiterin und Kuratorin der Kunstsammlung des Bundestags. „Die künstlerischen Ergebnisse entstehen – anders als bei den Kunst-am-Bau-Aufträgen – in einem offenen Prozess, in dem es auch um gegenseitige Vertrauensbildung geht.“ Mit 275 000 Euro Gesamtbudget wird einerseits die Kunst gefördert und andererseits zur Akzeptanz der Sammlung unter den Abgeordneten beigetragen.

Sie ließ sich von den Gebäuden inspirieren

Marion Eichmann hat sich für das Auftragsprojekt von den Gebäuden inspirieren und faszinieren lassen. Ursprünglich war an vier, fünf neue Arbeiten gedacht, schlussendlich wurden es 106. Über zwei Drittel davon sind in der Abgeordnetenlobby zu sehen, ein weiterer Teil in der Galerie Tammen, noch bis 3. September.

Welche der Werke angekauft werden, darüber entscheidet der Kunstbeirat, der unter Vorsitz der Bundestagspräsidentin tagt. Womit ein Favorit feststehen dürfte. Das persönliche Herzstück der Künstlerin wiederum ist der gelb leuchtende Hubwagen „HM 10P“. eine achtteilige Papiercollage in Originalgröße und schönster Akribie.

Mit all den Schaltknöpfen und Kabeln, der Hydraulik und Arbeitsbühne. Der taugt nicht zu Repräsentationszwecken, ist aber im Alltag allgegenwärtig und vielleicht ein neues Symbol für die Räder und Rädchen, das Auf und Ab parlamentarischer Prozesse beim Ackern für die Demokratie.