Tod und Wiederauferstehung
Das Böse hat viele Gesichter, eines der bekanntesten gehört Professor Moriarty. Sein Gegenspieler Sherlock Holmes nennt ihn einen „Napoleon des Verbrechens“. Aber wie sieht es aus, das Gesicht des kriminellen Schwergewichts? Je genauer man ihn ins Auge fasst, desto stärker verschwimmen seine Konturen. Begonnen hat Moriarty seine Karriere als brillanter Mathematiker, seit er zur dunklen Seite der Macht gewechselt ist, verschwindet er im Hintergrund. Die Unschärfe ist sein Versteck.
Auch der Schweizer Zeichner Hannes Binder liefert nur ein eher unpräzises Porträt des Verbrechers. Tiefliegende Augen, grimmiger Blick. Doch wie sieht seine Stirn aus, welches Haar hat er, ist seine Nase gerade oder gebogen? In der von Binder illustrierten Ausgabe von Arthur Conan Doyles Kurzgeschichte „Das letzte Problem“ bleibt Moriarty ein Phantom. Als er in Holmes’ Wohnung – bekanntlich 221b Baker Street in London – einbricht, sieht man den Unhold in der Rückenansicht ins schummrig beleuchtete Arbeitszimmer vorstoßen, darüber eine aus kreisenden Strichen zusammengesetzte Nahaufnahme seines Antlitzes.
Ein Genie des Bösen
Moriarty ist gekommen, um ein Ultimatum zu stellen: Entweder gibt der Detektiv die Jagd auf den Gaunerkönig sofort auf – oder diesem bleibt nichts anderes übrig, als ihn zu vernichten. Holmes entgegnet kühl: „Gefahr ist Teil meines Geschäfts.“ Er hat Gefallen daran gefunden, in dem „Genie des Bösen“ zum ersten Mal einen ebenbürtigen Gegner bekommen zu haben. „Wie eine Spinne knüpft er ein Netz aus Intrigen“, warnt Holmes seinen getreuen Begleiter Dr. Watson. Binder zeigt ein Gehirn und eine Riesenspinne, die die Erdkugel in die Zange nimmt.
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„Das letzte Problem“, 1893 erschienen, erzählt von einem Duell, das kein gutes Ende finden kann. Holmes muss einstecken, wird mit einem Knüppel attackiert, beinahe von einem herabfallenden Ziegel getötet. Vom Victoria-Bahnhof brechen Holmes und Dr. Watson zum Kontinent auf, nicht um zu fliehen, sondern um Moriarty aus der Reserve zu locken. Von Dieppe geht es über Luxemburg und Basel nach Meiringen. Der Reichenbachfall dort zählt seither zu den berühmtesten Tatorten der Literaturgeschichte. Vor der imposanten Alpenkulisse des Berner Oberlandes kommt es zum Showdown.
Mit dem Knüppel attackiert
Wir sehen die Silhouette eines Mannes, der mit einem Stock eilig bergauf steigt. Es ist Moriarty, der Dr. Watson mit einem fingierten Brief ins Tal hinab gelockt hat. Holmes ist allein. Was danach geschieht, geht aus Watsons Protokoll hervor: „Eine Untersuchung durch Experten lässt wenig Zweifel, dass ein Handgemenge zwischen den beiden Männern damit endete, dass sie hinunter taumelten, einer den anderen umklammert haltend.“ Der klügste Detektiv und der gefährlichste Verbrecher der Welt werden für tot erklärt.
[Hannes Binder: Sherlock Holmes – Das letzte Problem. NordSüd Verlag, Zürich 2022. 50 Seiten, 16 €]
Hannes Binder, 1947 in Zürich geboren, ist mit seinen Glauser-Comics bekannt geworden, in denen er die Kriminalgeschichten um den Wachtmeister Studer in Szene setzte. Er arbeitet mit der Schabkarton-Technik, kratzt mit einer Feder die weiße Zeichnung aus der dunklen Pigmentschicht heraus, mit der das Blatt bedeckt ist. Das Verfahren erinnert an eine Radierung, die Schraffuren verleihen den Bildern Dynamik und eine Illusion von Dreidimensionalität. Großartig ist, wie Binder die Geschichte in der Abstraktion enden lässt, das herabstürzende Wasser scheint geradezu zu explodieren.
„Killed Holmes“, notierte Arthur Conan Doyle, als „Das letzte Problem“ im „Strand“-Magazin herausgekommen war. Der Autor hatte genug von seiner Figur und wollte sich historischen Sujets zuwenden. Allerdings hatte er die Rechnung ohne die Fans gemacht. Sie bekundeten mit schwarzen Schleifen ihre Trauer. Am Ende sah Doyle sich genötigt, seinen Helden wiederauferstehen zu lassen. In der Short Story „Das leere Haus“ war der Detektiv 1903 wieder zur Stelle.