Schulanfang in der Fremde

3. September 2022
Wenn meine Mutter von meiner Kindheit in Charkiw erzählt, erwähnt sie früher oder später, dass ich ein kränklicher Junge war. Ausgerechnet zu sowjetischen Feiertagen wurde ich krank – zum Tag der Roten Armee und zum Frauentag, zum Jahrestag der Großen Oktoberrevolution sowie zum Tag der Verfassung, sogar meinen ersten Schultag habe ich vermasselt – am 1. September 1982 lag ich mit einer schlimmen Grippe zu Hause, Schule kam nicht infrage.

Das klassische Foto aus dem Familienalbum, wo man mich zum ersten Mal im Leben in der Schuluniform und mit brandneuem Ranzen bewundern kann, wurde erst am 8. oder 9. September gemacht.

Unterricht darf nur in Schulgebäuden mit sicherem Bunker stattfinden

Bei uns in der Klasse gab es drei Kinder, die vom vom Ukrainischunterricht befreit wurden – aus gesundheitlichen Gründen, hieß es offiziell. Was das bedeutete, blieb mir immer ein Rätsel, ich kann mir nach wie vor nicht vorstellen, welche gesundheitlichen Gründe das Lernen der ukrainischen Sprache und Literatur in der Ukraine erschweren könnten (während russisch übrigens nie als gesundheitsgefährdend galt).

Sonst machten diese Klassenkamerad*innen von mir eigentlich einen fitten Eindruck, sie durften sogar beim Sportunterricht mitmachen. Und ich kann mich gut daran erinnern, wie die Lehrerin uns in der 8. Klasse Gedichte von Wassyl Stus vorlas und ich plötzlich glaubte, eine Parallelwelt hätte sich vor mir aufgetan – solche ukrainische Literatur hat man uns bis zu diesem Moment verheimlicht. Stus war ein sowjetischer Dissident, kein einziges Buch von ihm ist zu seiner Lebenszeit erschienen.

Als Gorbatschow letzte Woche starb, musste ich wieder an diese Zeit der Entdeckungen denken, an die Zeit von Glasnost, die oft als Gorbatschows Verdienst dargestellt wird. Am 4. September ist der 27. Todestag von Wassyl Stus, dessen Leben 1985 im Zwangsarbeitslager endete – als Gorbatschow schon Generalsekretär war.

In ukrainische Schulen kehrte ich erst 2020 zurück, als ich eingeladen wurde, an einem Theaterprojekt mit Jugendlichen aus dem Donbass teilzunehmen. Im November bin ich aus Berlin nach Charkiw geflogen und nahm von dort ein Taxi nach Mikolajiwka. Es fühlte sich etwas seltsam an, die neuen Ecken meiner alten Heimat zu entdecken – mit 45 Jahren, ein Vierteljahrhundert nachdem ich mit meiner Familie nach Deutschland gezogen war.

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Zum größten Teil sind die Schulgebäude die alten geblieben, stellte ich fest, doch mir schien es, als ob die Kinder sich hier mehr zu Hause fühlten als wir einst, und auch ihre Lehrer wirkten entspannter und lachten gern – viel öfter als unsere vor 35 Jahren, glaube ich. Ein weiteres gutes Zeichen: Mir fiel auf, dass die Kinder auch nach dem Unterricht gern in der Schule blieben, zum Beispiel mit uns, einem Team deutsch-ukrainischer Freaks, die mit ihnen Theater und Musik machten.

Im postsowjetischen Raum ist der erste Schultag traditionell der 1. September. Bloß verlief er für Millionen ukrainischer Familien im Jahr 2022 anders als geplant. Ihre Kinder wurden an neuen Orten eingeschult, nicht da, wo sie geboren und aufgewachsen sind, oft in Ländern, deren Sprache sie erst seit ein paar Monaten lernen.

In der Ukraine darf der Unterricht dieses Jahr nur an den Schulen stattfinden, die über einen sicheren Schutzbunker verfügen. In den zurzeit von russland okkupierten Städten sind ganze Schulen vom Ukrainischunterricht befreit (dafür ist russisch jetzt Pflichtfach).

Eine am 1. September oft in den sozialen Medien geteilte Fotostrecke zeigt ukrainische Schulen im Vergleich – vor der Eskalation des Krieges und heute. Auf den neuen Bildern kann man die Gebäude oft nicht mehr erkennen, geblieben sind nur Ruinen. Die Schule, die mein Sohn vor vier Jahren in Charkiw besuchte, wurde beschossen. Die Schule, in der meine beiden Schwestern lernten, ist zerbombt worden. Und auch die Schulen in Popasna und Mykolajiwka, an denen wir mit den Kindern an unserer „New Donbass Symphony“ gearbeitet haben, wurden von russischen Raketen zerstört.