Bar jeder Vernunft: Karriere einer Nackenrolle

Der Titel ist verstörend, anregend, mysteriös, schlüpfrig – mit anderen Worten: genial: „Die Bettwurst“ hieß der zweite Aufschlag von Rosa von Praunheim von 1971, parallel zu „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt.“ Beide Filme katapultierten den Regisseur an die vorderste Front des schwulen Undergrounds, Grundsteine für eine Künstlerkarriere, die auch heute noch, mit 80 Jahren, nicht vorbei ist.

Eine Schnelllektion in „Camp“

Bettwurst, was soll das sein? Der Begriff ist so herrlich doppeldeutig und gleichzeitig so nebulös, dass man mit den Thesen Walter Benjamins sagen könnte: Kunst ist dann gut, wenn sie Fragen nicht beantwortet. Es war auch dieser Titel, der dem Film jahrezehntelangen Kultstatus sicherte, neben der exaltierten, komplett außerirdischen Sprechweise der beiden Laiendarsteller natürlich, deren Figuren so heißen wie sie selbst: Luzi Kryn, eine Tante des Regisseurs, und Dietmar Kracht. Wer bis dato in Deutschland noch nicht wusste, was „camp“ ist, bekam mit „Die Bettwurst“ eine Schnelllektion.

Jetzt bricht Rosa von Praunheim nochmal zu neuen Ufern auf – mit seiner ersten Musicalinszenierung. Die Idee, die „Bettwurst“ auf die Bühne zu bringen, stammt von Lutz Deisinger, dem künstlerischen Leiter der Bar jeder Vernunft. Über der zweiten Eigenproduktion des Hauses in diesem Jahr (bis 2. Oktober, www.bar-jeder-vernunft.de) schwebt die Frage: Würde eine Transformation ins anderes Genre ohne schmerzhafte Verluste gelingen?

So viel sei bereits gesagt – dass der Abend ein rauschender Erfolg wird, liegt vor allem an einem Mann: Heiner Bomhard liefert eine nahezu epische Leistung. Dass er mit Rosa von Praunheim gut zusammenarbeiten kann, bewies er schon in „Jeder Idiot hat eine Oma, nur ich nicht“ am Deutschen Theater. Jetzt hat er nicht nur alle Lieder geschrieben, er spielt den Dietmar auch so nah dran am Original, dass einem die Augen feucht werden. Sein manchmal grenzdebiles Grinsen kann er nach Belieben an- und ausknipsen, seine Reproduktion des ikonischen Mannheimer Dialekts („Ich geh’ ja gern schwimme’, furchdbar gern geh ich schwimme’“) ist schlicht großartig, wie viel Arbeit muss das gekostet haben! Schwer vorstellbar, dass irgendjemand anderes als er diese Rolle schultern könnte.

Cast des Musicals mit der titelgebenden Bettwurst.
Cast des Musicals mit der titelgebenden Bettwurst.
© Barbara Braun/ MuTphoto

Mit Anna Mateur als Luzi fremdelt man zunächst etwas, weil ihre Stimme – woraus sie auch keinen Hehl macht – viel zu tief gelagert ist, um Anklänge ans legendäre, zwischen Scheppern und Piepsen changierende Vorbild aufkommen zu lassen. Doch sehr bald erarbeitet sich Mateur eine Figur eigenen Rechts, mit ihrem stets kampfbereiten Panzerbusen hat sie ja wirklich etwas Wuchtbrummenhaftes, und ihre machtvolle Opernstimme ist spektakulär. So spielen sowohl die Hauptdarsteller als auch der Abend insgesamt eine interessante Dialektik durch: die von möglichst enger Imitation des Originals und Emanzipation in ein neues Stück.

Das Musical schärft nach, was im Film im Ungefähren bleibt

Denn an vielen Stellen geht die Inszenierung über den Film hinaus, schärft nach, was dort im Ungefähren bleibt. Vor allem wird Dietmars Homosexualität („Was mache ich nur mit ihrer Vagina?“) jetzt viel stärker betont, denn eigentlich ist er doch eine „Tundde“. Und auch die Bettwurst selbst – bei der es sich, soviel dürfte nach 50 Jahren klar sein, um eine Nackenrolle handelt – rückt stärker in den Vordergrund. Das Paradoxon des Films besteht ja darin, dass das titelgebende Objekt nur zwei Sekunden lang überhaupt vorkommt, in Dietmars legendärem Satz zu Weihnachten: „Eine Bettwurst, sowas habe ich mir schon immer gewünscht!“. Was man jetzt als Aufblitzen verdrängter schwuler Phantasien lesen kann.

Gerahmt wird die Handlung goetheanisch mit einem Prolog im Himmel, wo Luzi und Dietmar auf ewig zusammen sind. Kunst und Realität laufen also schon zu Beginn ineinander: Der wirkliche Dietmar Kracht ist 1976 im Grunewaldsee ertrunken, Luzi Kryn 2000 in Kiel gestorben. Neben den Musikern, die Heiner Bomhards schwunghafte Musik leichtfüßig umsetzen (Ferdinand von Seebach, James Scannell, Andreas Henze) ist ein Chortrio im Einsatz, praunheimgemäß mit prallen, ausfahrbereiten Dildos im Schritt: Tobias Stemmer, Thaddaeus Maria Jungmann und Nell Pietrzyk boostern mit ihrem Gesang die Atmosphäre und Stimmung, kommentieren aber auch nonnenhaft das Geschehen – und feiern wie alle anderen schließlich im Foyer mit dem Anschnitt der Bettwursttorte.

Was auch bleibt: Anerkennung für die Lebensleistung Rosa von Praunheims, der jetzt, nachdem alle Schlachten und Verletzungen aus der Aids-Krise und den Outing-Kampagnen der 90er Jahre geschlagen sind, fast altersmilde wirkt, mit der Würde einer – wenn der Vergleich zur parallel zur Premiere gestorbenen Monarchin erlaubt ist – Queen des schwulen Kinos. Und dabei bewundernswürdig frei von Müdigkeit einfach immer weitermacht. Am 29.9. kommt sein neuer Film über Rex Gildo ins Kino.

Zur Startseite