Im toten Meer des Unrats wimmelt Leben

Ein bisschen wirkt die Bühne wie bei Mauricio Kagels „Exotica“: Buntschillernde Kostüme, Federschmuck, Masken, bemalte Musikinstrumente lassen wie im Skandalstück von 1972 ein Hohelied auf die Kraft indigener, vom Westen unterdrückter Kulturen erwarten, zumal sich ein goldblitzender Maya-Gott den Weg durchs Publikum bahnt.

Doch dann schlägt Diana Syrses Musiktheater „Mexico Aura: The Myth of Possession“ ganz andere Töne an. Auf Texte von Eva Hibernia und John von Düffel vollzieht das Stück einen weiten Bogen von Einwandererelend an der mexikanischen US-Grenze über Maya-Rituale und Widerstandsbewegungen bis zur Problematik geraubter Kultur, an der wir uns in den Museen erfreuen.

Nicht alle Erzählfäden werden hier stimmig verknüpft, doch das ist zugleich eine Stärke dieser Produktion der Neuköllner Oper. In assoziativer Vielfalt tun sich stets neue Perspektiven auf, wird jede Einseitigkeit vermieden. Dem mitveranstaltenden Humboldt-Forum, das in seinen dringend zu belebenden Räumen sein erstes Musiktheater überhaupt zeigt, kann das nur gut tun. Das Museum als solches steht auf den Prüfstand, das seinen Exponaten das Leben raubt.

Kuratorin Mia (Diana Syrse) behauptet, die Schönheit vor dem Verschwinden und Vergessen zu bewahren – für Paloma (Ana Schwedhelm), Aktivistin und Künstlerin, angesichts des Verschwindens der brennenden Erde ein vermessen-hilfloses Unterfangen. Ein blutender Mann mit Hundekopf (Justus Wilcken) – Gott oder Toter – verirrt sich ins Museum.

Er hält es für die Unterwelt, sucht dort seine verstorbene Frau „Aura“. Ohne die Mutter, fürchtet er, würden seine Kinder zu Wasser, die der weiße Mann in Flaschen abfüllt und für zwei Dollar das Stück verkauft.

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Magie und Ratio kreuzen sich in den Gesängen der drei Protagonisten, die stimmgewaltig durch unterschiedliche Klangwelten streifen und dabei auch mal mit ausgestelltem Pathos den Belcanto der klassischen Oper berühren.

Wilcken ist auch Claas Relotius, der geschasste „Spiegel“-Autor, dessen Reportagen als Fake entlarvt wurden. Gesänge vom Klistier, mit dem man sich bewusstseinserweiternde Substanzen injiziert, und von den Müllhalden der mexikanischen Drogenmafia erhalten so eine surreal-ironische Komponente.

Die „Müll-Szenen“ zeigen eindrucksvoll die Präzisionsarbeit des kulturell diversen Ensembles. Rebekka Dornhege Reyes Kostüme aus Müllmaterialien loten ein Spektrum zwischen vielfarbiger Haut und Tarnanzügen aus. Knisternde Folien, Metallteile und durch die Luft geschwenkte Plastikschläuche stellen ebenso das von Leben wimmelnde Meer des toten Unrats dar und sind zugleich musikalisch einsetzbar.

Syrses Musik ist ein brodelnder, murmelnder Soundtrack

Regisseur und Choreograph Christopher Roman führt mit souveräner Fantasie seine fünfköpfige, auch im Sprechchor agierende Tänzer*innentruppe durch diese „Materialschlacht“ und lässt in faszinierenden, sinnlichen Gruppenbildern individuelle Profile aufscheinen. Mexiko entfaltet hier seine „Aura“ in leuchtendem, stinkendem, rauchendem Elend, in dem sich Widerstandskämpferin Constanza (Schwedhelm) wie eine Feuergöttin opfert. In „Paloma“ verwandelt, trägt Schwedhelm diese Feuer und ihren Widerstandsgeist bis ins kühle Humboldt-Forum.

[Wieder am 24., 29., 30., 31. Juli und 4. August jeweils 19 Uhr.]

Syrses Musik ist ein brodelnder, murmelnder Soundtrack. Trommelexzesse stechen hervor und Syrses Musik ist ein brodelnder, murmelnder Soundtrack – mit Elektronik versetzt, ebenso urbane Klanglandschaften wie naturhaft wuchernde Atmosphäre. Das magische Ritual ist ihr eingeschrieben.

Zugleich wird die Musik selbst zur Protagonistin – mit profilierter, fast arioser Melodik, die bei aller Atonalität nie ihre Ausdruckskraft verliert. Melissa Panlasigui leitet mit präziser Strenge das mit Klavier, Kontrabass, Klarinette, Violine durchaus klassisch bestückte Ensemble Zafraan, das auch die mexikanischen „Exoten“ integriert. Mexikos „Aura“ wird hier zeitgenössisch interpretiert und so in ihrem konflikthaften Potential erst sichtbar gemacht.